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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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unmißverständlicher Entschlußkraft wies sie ihn zurück und verriegelte für immer ihre Schlafzimmertür.
    Wenige Monate nach Aureliano Josés Rückkehr stellte sich im Haus eine üppige, jasminduftende Frau mit einem fünfjährigen Knaben vor. Sie behauptete, er sei ein Sohn Aureliano Buendías und sie wolle ihn Ursula bringen, damit sie ihn taufe. Niemand zog die Herkunft des namenlosen Knaben in Zweifel: Er sah genau aus wie der Oberst zu der Zeit, als man ihn mitgenommen hatte, um das Eis kennenzulernen. Die Frau erzählte, er sei mit offenen Augen geboren worden und habe die Leute mit dem Verstand Erwachsener angeblickt, seine Art, den Blick ohne Wimpernzucken auf den Dingen haften zu lassen, erschreckte sie. »Er ist genau gleich«, sagte Ursula. »Es fehlt nur, daß er die Stühle durch bloßes Anschauen verrückt.« Man taufte ihn auf den Namen Aureliano und gab ihm den Familiennamen der Mutter, weil das Gesetz das Tragen des Vaternamens erst zuließ, wenn der Vater ihn anerkannt hatte. General Moncada stellte den Taufpaten. Obgleich Amaranta darauf drängte, man möge seine Erziehung ihr überlassen, widersetzte sich die Mutter der Bitte.
    Ursula kannte damals noch nicht die Sitte, junge Mädchen in die Schlafkammern der Krieger zu schicken, so wie man Hennen unter die Zuchthähne losläßt, doch im Verlauf dieses einen Jahres mußte sie erleben, daß weitere neun Sprößlinge Oberst Aureliano Buendías zur Taufe ins Haus gebracht wurden. Der älteste, ein merkwürdiges braunhäutiges Bürschchen mit grünen Augen, das nichts mit der väterlichen Familie zu tun hatte, war bereits über zehn Jahre alt. Die Frauen brachten Kinder jeden Alters und aller Farben, doch nur Knaben, und allen haftete ein Anflug von Einsamkeit an, der keinen Zweifel über die Blutsverwandtschaft ließ. Nur zwei unterschieden sich von dem großen Haufen. Einer, der, zu groß für sein Alter, die Blumentöpfe zerschlug und mehrere Stücke Geschirr, weil seine Hände die Eigenschaft zu haben schienen, alles zu zerschlagen, was sie berührten. Der andere, ein Blondkopf, hatte die gleichen tiefblauen Augen wie seine Mutter; man hatte sein langes lockiges Haar wachsen lassen wie bei einem Mädchen. Er stolzierte mit der größten Natürlichkeit von der Welt ins Haus, als sei er darin aufgewachsen, marschierte schnurstracks auf eine Truhe in Ursulas Schlafzimmer zu und forderte: »Ich will die aufziehbare Tänzerin.« Ursula erschrak. Sie öffnete die Truhe, kramte zwischen veralteten, verstaubten Gegenständen aus Melchíades' Zeit und fand, in ein Paar Strümpfe gewickelt, die aufziehbare Tänzerin, die Pietro Crespi eines Tages mitgebracht hatte und die seither vergessen war. In weniger als zwölf Jahren wurden auf den Vornamen Aureliano und den Zunamen der Mutter alle Söhne getauft, die der Oberst in der Weite und Breite seiner Kampfgebiete gesät hätte: insgesamt siebzehn. Anfangs stopfte Ursula ihnen die Taschen mit Geld voll, und Amaranta versuchte, sie bei sich zu behalten. Doch schließlich begnügten sie sich damit, ihnen ein Geschenk zu machen und ihre Patinnen zu sein. »Wir haben unsere Pflicht erfüllt und sie getauft«, sagte Ursula und notierte in ein Büchlein Namen und Anschrift der Mütter sowie Geburtsort und -tag der Knaben. »Aureliano muß auf dem laufenden sein, damit er seine Beschlüsse fassen kann, sobald er zurückkommt.« Als sie bei einem Mittagessen mit General Moncada über diese verblüffende Fruchtbarkeit sprach, äußerte sie den Wunsch, Oberst Aureliano Buendía möge eines Tages zurückkehren, damit er alle seine Söhne im Hause um sich scharen könne.
    »Keine Sorge, Gevatterin«, sagte General Moncada geheimnisvoll, »er wird früher kommen, als Sie vermuten.«
    Was General Moncada wußte, beim Mittagessen aber nicht verraten wollte, war dies: Oberst Aureliano Buendía stellte sich in diesem Augenblick an die Spitze des längsten, radikalsten und blutigsten Aufstands, den er bislang angezettelt hatte.
    Die Lage war so gespannt wie in den dem ersten Krieg vorangegangenen Monaten. Die vom Bürgermeister persönlich geförderten Hahnenkämpfe wurden eingestellt, Hauptmann Achilles Ricardo, Befehlshaber der Garnison, übernahm praktisch die Regierungsgewalt über den Kreis. Die Liberalen bezeichneten ihn als Provokateur. »Etwas Schreckliches wird geschehen«, sagte Ursula zu Aureliano José. »Geh nach sechs Uhr nicht mehr auf die Straße.« Vergebliche Bitten. Aureliano José gehörte ihr

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