Hundert Namen: Roman (German Edition)
Zeit saß sie vor der Jeremy-Kyle-Show, aber Constance, die sowieso keinen großen Wert auf ein ordentliches Heim legte, brachte es nicht übers Herz, Teresa zu entlassen. Natürlich war Teresa auch mit Kitty gut bekannt, hieß sie direkt herzlich in der Wohnung willkommen und kehrte dann mit ihrer Tasse Tee wieder auf ihren Sessel zurück, um zuzuschauen, wie ein Mann und eine Frau sich anbrüllten, weil ein Lügendetektortest für beide nicht das erwünschte Ergebnis erbracht hatte. Kitty war froh, dass Teresa sich nie die Nachrichten anschaute, deshalb auch nichts vom Drama der vergangenen Woche und dem heutigen Gerichtsurteil mitbekommen hatte, so dass sie keine lästigen Fragen zu befürchten brauchte, sondern sich unbehelligt in Constances und Bobs Büro zurückziehen konnte.
Die beiden Schreibtische standen sich gegenüber, gleichermaßen überhäuft mit für das ungeübte Auge vollkommen chaotischen Zettelbergen, bei denen es sich jedoch wahrscheinlich nicht um Abfall, sondern um lebenswichtige Unterlagen handelte. Über Constances Schreibtisch hingen französische Fotos aus den dreißiger Jahren – nackte Frauen in allerlei provokanten Posen –, die sie dort aufgehängt hatte, damit Bob sich an ihnen erfreuen konnte, und er hatte sich auf seiner Seite mit afrikanischen Gemälden nackter Männer revanchiert. Auch auf dem Boden gab es ein lebhaftes Durcheinander: Wildgemusterte Perserteppiche überlappten sich, so dass es schwer war, nicht ständig über Beulen und Dellen zu stolpern. Zur Fortsetzung der Kunstmischung aus den anderen Teilen der Wohnung gesellte sich hier eine Sammlung von Porzellankatzen, die in unterschiedlichen Posen überall im Raum verteilt lauerten. Kitty wusste, dass Constance Katzen hasste, sowohl reale als auch solche aus Porzellan, aber diese hatten ihrer Mutter gehört, und als sie starb, hatte Constance darauf bestanden, den Tierchen ein neues Zuhause zu geben. Der Raum war so wirr, dass Kitty sich immer fragte, wie in aller Welt man sich hier konzentrieren konnte, aber ihre beiden Freunde hatten offensichtlich kein Problem damit und arbeiteten sogar sehr erfolgreich. Constance war in Paris aufgewachsen und nach Dublin gezogen, um ihren reichen Vater zu ärgern, und hatte am Trinity College englische Literatur studiert. Schon während des Studiums arbeitete sie in der Redaktion der College-Zeitung, und ihr erster richtiger Job war bei der Irish Times , wo sie Artikel fürs Feuilleton schrieb und Bob – der eigentlich Robert McDonald hieß – kennenlernte. Bob war zehn Jahre älter als sie und Wirtschaftskorrespondent bei der Zeitung. Als Constance genug davon hatte, dass man ihr sagte, was sie tun sollte – was bei ihr nie sehr lange dauerte –, beschloss sie, ihren Vater noch mehr zu ärgern, indem sie ihren respektablen Job bei Irlands größter Tageszeitung kündigte und eine eigene Publikation ins Leben rief. Bob beteiligte sich an dem Projekt, und nachdem die beiden mit mehreren Druckwerken Erfahrung gesammelt hatten, gründeten sie vor zwölf Jahren das Magazin Etcetera , ihr bislang erfolgreichstes Unternehmen. Es war nicht die meistgekaufte Zeitschrift Irlands, da sie keine Tipps zur Bekämpfung von Zellulitis oder für den perfekten Bikinikörper gab, aber sie genoss in der Branche großes Ansehen. Für Etcetera zu schreiben war eine Ehre und ein großer Schritt auf der Erfolgsleiter. Constance hatte den Ruf einer nüchternen Herausgeberin, die kein Blatt vor den Mund nahm und ein untrügliches Auge sowohl für eine Story als auch für hoffnungsvolle Talente hatte. Viele erfolgreiche Autoren des Landes hatten bei Etcetera angefangen.
Kitty ging zum Aktenschrank und war sehr beeindruckt von dem übersichtlichen Ablagesystem, das Constance entwickelt hatte. Es stand in krassem Gegensatz zum Rest der Wohnung: Nicht nur für die Artikel, die in Etcetera oder einem der anderen von Constance herausgegebenen Magazine erschienen waren, sondern auch für sämtliche Beiträge, die Constance für andere Publikationen verfasst hatte, sowie für ihre Projektideen gab es eine eigene, alphabetisch einsortierte Karteikarte. Kitty konnte ihre angeborene Neugier nicht zurückhalten und las möglichst viele davon, bevor sie zum Buchstaben N gelangte. Und da war er – ein einfacher brauner Umschlag, eingeordnet unter Namen . Er war zugeklebt, und obwohl Kitty wusste, dass sie eigentlich mit Constance etwas anderes abgemacht hatte, konnte sie ihre Ungeduld nicht in Schach halten
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