Hundert Namen: Roman (German Edition)
und setzte sich an Constances Schreibtisch, um ihn zu öffnen. Als Teresa an der Tür erschien, zuckte sie zusammen wie ein ungezogenes Schulmädchen, das beim Rauchen ertappt wird, ließ den Umschlag auf den Schreibtisch fallen und musste dann über sich selbst lachen.
»Hast du sie besucht?«, fragte Teresa.
»Ja, letzte Woche. Diese Woche hab ich es nicht geschafft, weil ich einen wichtigen Termin hatte«, antwortete Kitty mit sehr schlechtem Gewissen, dass ihr Gerichtsprozess sie daran gehindert hatte, Constance zu sehen. Sie wusste, dass sie sich mehr hätte bemühen müssen, aber die Schinderei in den Four Courts hatte sie jeden Tag so fertiggemacht, dass sie nicht nur erschöpft, voller Selbstmitleid und überhaupt mit sich selbst beschäftigt gewesen war, sondern sich auch ziemlich defensiv und kiebig gefühlt hatte. Und diese negative Energie an Constances Bett mitzubringen war ihr irgendwie unfair vorgekommen.
»Ich vermute, dass sie ziemlich hoffnungslos aussieht.«
Kitty wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Mein Frank ist an Krebs gestorben. Lungenkrebs. Hat vierzig Zigaretten am Tag geraucht, aber trotzdem – was er durchmachen musste, so was hat keiner verdient. Er war im gleichen Alter wie Constance. Vierundfünfzig.« Sie seufzte. »Kaum zu glauben, dass ich inzwischen fast so viele Jahre ohne ihn gelebt habe wie mit ihm.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Möchtest du eine Tasse Tee? Er schmeckt ein bisschen metallisch, ich hab nämlich jede Menge Münzen in der Teekanne gefunden. Anscheinend haben die beiden die Kanne als Sparschwein benutzt! Bob hat gesagt, ich soll das Geld zur Bank bringen. Sechsundsiebzig Euro und fünfundzwanzig Cents waren in der Teekanne.«
Kitty lachte über ihre exzentrischen Freunde, lehnte das Angebot eines metallischen Tees jedoch ab. So aufgeregt sie auch war, endlich den Umschlag mit Constances Idee in Händen zu halten, besiegte sie nun doch den Drang, ihn zu öffnen, und rief Bob an, um ein Treffen zu vereinbaren. Drei ihrer Versuche landeten auf seiner Mailbox, und schließlich hatte sie es satt zu warten und machte sich mit dem Rad auf den Weg zur Klinik. Unterwegs spürte sie, wie ihr Handy vibrierte. Sie antwortete über das Headset.
»Hi, Bob, ich bin unterwegs zu euch, hoffentlich ist das okay. Ich habe den Umschlag mit der Idee dabei, über die Constance uns etwas erzählen will. Ich kann einfach nicht mehr warten.«
»Momentan ist kein guter Zeitpunkt«, erwiderte Bob. Er klang gestresst, das hörte Kitty trotz des Verkehrslärms. »Sie ist … äh, ihr Zustand hat sich sehr verschlechtert.«
Kitty hörte so plötzlich auf, in die Pedale zu treten, dass der Radler hinter ihr fast aufgefahren wäre und fürchterlich zu schimpfen anfing. Hastig stieg sie ab und hievte ihr Rad von der Fahrradspur auf den Gehweg.
»Was ist passiert?«
»Ich wollte dir nichts davon sagen, du hattest sowieso eine schlimme Woche. Außerdem habe ich gehofft, dass es ihr bald bessergehen würde, aber sie … sie hat ziemlich abgebaut seit deinem letzten Besuch. Sie hat immer wieder das Bewusstsein verloren und mich die letzten beiden Tage oft nicht erkannt, sie war verwirrt, hat halluziniert und meistens Französisch gesprochen. Heute ist sie – nun ja, Kitty, sie liegt im Koma.« Seine Stimme versagte.
»Soll ich kommen?«, fragte Kitty. Sie spürte die Panik in sich, aber ihr Angebot kam von Herzen, sie wollte wirklich dort sein, der Geruch war ihr egal, sie wollte bei Bob sein – und bei Constance.
»Nein, nein, du bist beschäftigt, ich schaff das schon.«
»Ich hab nichts Wichtiges zu tun, Bob, genaugenommen gar nichts. Und ich möchte gern kommen. Bitte lass mich, ja?«
Kitty legte auf und radelte los, als ginge es um Leben und Tod, was ja in gewisser Weise stimmte.
»Hi, Steve, ich bin’s. Ich hab gerade an dich gedacht, und na ja, ich wollte noch ein paar Sachen sagen zu unserem Gespräch neulich. Also, los geht’s. Top oder hopp. Dann hab ich noch Toll oder oll. Dezent oder dement . Vielleicht ein bisschen geschmacklos, aber immerhin. Und zum Schluss mein Liebling Schick oder Schock . Ich hoffe, es gefällt deinem Boss und meine Vorschläge kommen nicht zu spät. Okay, na ja, offensichtlich bist du nicht da, oder du bist doch da und hörst meine Ansage und denkst, ich bin betrunken oder … ach, ich weiß nicht, was du denkst. Ich leg jetzt auf. Oh, und noch was. Constance ist gestorben. Heute Abend. Und äh … o Mann, es tut mir
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