Hundert Namen: Roman (German Edition)
und vor dessen Schreibtisch auf und ab tigerte. »Vierhunderttausend Euro, plus Anwaltskosten. Das ist überhaupt nicht das, was Sie uns in Aussicht gestellt haben.«
»Ich habe immer gesagt, wahrscheinlich –«
»Wagen Sie es nicht, jetzt einen billigen Rückzieher zu machen«, brüllte Paul. »Das ist absurd. Wie konnten die uns das antun? Wir haben uns doch entschuldigt, öffentlich, gleich zu Beginn unserer Sendung am achten Februar. Vierhundertfünfzigtausend Menschen haben gesehen, wie wir Abbitte getan und unseren Irrtum eingeräumt haben. Millionen haben es im Internet gesehen, und nach dem Prozess werden es garantiert noch viel mehr. Wissen Sie, was – ich glaube, dass man uns von Anfang an verschaukelt hat, das war doch eine abgekartete Sache. Diese beiden Frauen, ich wette, die stecken mit Colin Murphy unter einer Decke und kriegen ihren Teil von dem Geld ab. Würde mich nicht überraschen. Inzwischen würde mich sowieso gar nichts mehr überraschen. Vierhunderttausend, verdammt! Wie soll ich das unserem Intendanten verklickern?«
Kitty nahm die Stirn von der kühlen Wand des Korridors und ging auf die offene Bürotür zu. »Wir haben es verdient, Paul.«
Totenstille kehrte ein, und sie konnte hören, wie Donal hinter ihr tief einatmete. Dann drehte Paul sich um und starrte sie an, als wäre sie ein Nichts – was immer noch ein bisschen mehr war als das, wie sie selbst sich fühlte.
»Wir haben Colin Murphys Leben zerstört. Wir haben jedes Wort verdient, das da drin gesprochen wurde. Wir hätten so einen Riesenfehler niemals machen dürfen, und jetzt müssen wir die Verantwortung übernehmen für das, was wir getan haben.«
»Was wir getan haben? Nein. Du hast das getan! Du hast sein Leben ruiniert, ich war nur der Idiot, der davon ausgegangen ist, dass du deinen Job ordentlich machst und tatsächlich auch Recherche betreibst. Ich hab immer gewusst, dass wir dir diese Geschichte nie hätten überlassen dürfen. Lass dir eines gesagt sein, Kitty – der Sender wird dich nie mehr beschäftigen. Du hast offensichtlich keine Ahnung, wie man eine Reportage macht«, brüllte er.
Kitty nickte und wandte sich zum Gehen. »Tschüss, Donal«, sagte sie leise.
Er nickte ihr zu, und sie verließ das Gebäude durch den Hinterausgang.
Aus zwei Gründen hatte Kitty Angst, in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie war nicht sicher, ob die Entscheidung des Gerichts die Attacken auf ihre Wohnung eher anfeuern würde oder ob sie jetzt, wo Colin hundertprozentig rehabilitiert und sogar finanziell entschädigt worden war, aufhören würden. Der andere Grund war, dass sie sich vor dem Alleinsein fürchtete. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, sie konnte nicht mehr über die Sache nachdenken und sich deswegen fertigmachen, aber sie hatte auch das Gefühl, dass sie nicht damit aufhören durfte. Sie hatte die Strafe verdient, sie musste diese Schande irgendwie durchstehen. Langsam ging sie zu ihrem Fahrrad, das sie in einer Seitenstraße beim Gerichtsgebäude abgestellt hatte, und fuhr zu Constances Wohnung. Paul hatte ihr vorgeworfen, sie wüsste nicht, wie man eine ordentliche Reportage machte, aber sie kannte jemanden, der es wusste, und vielleicht war es Zeit, dass Kitty wieder anfing zu lernen.
Constances und Bobs Wohnung lag im Souterrain eines dreistöckigen edwardianischen Hauses in Ballsbridge, in dem ansonsten die Redaktionsräume der Zeitschrift untergebracht waren. Aus ihrer Wohnung war im Lauf der Jahre eine Art erweitertes Büro geworden, das die beiden sich teilten und in dem sie seit fünfundzwanzig Jahren zusammenlebten. Die Küche, die nie benutzt wurde, weil Constance und Bob meistens essen gingen, war mehr oder weniger unter einem bunt zusammengewürfelten Wust von Souvenirs versunken, die sie von ihren ausgedehnten Reisen rund um die Welt mitgebracht hatten. Wunderschöne Ebenholzschnitzereien neben glücklich grinsenden Buddhas, venezianische Glasfiguren nackter Frauen, afrikanische und venezianische Masken, die auf den Köpfen alter Teddybären saßen, und an den Wänden eine wilde Mischung aus chinesischen Radierungen, Landschaftsgemälden und Bobs liebsten satirischen Comics. Die ganze Wohnung fühlte sich nach Bob und Constance an – sie hatte Persönlichkeit, sie war witzig, sie war quicklebendig. Teresa, die Haushälterin, arbeitete seit fünfundzwanzig Jahren für die beiden, war inzwischen über siebzig und widmete sich fast nur noch leichten Arbeiten wie Staubwischen. Die meiste
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