Hundert Namen: Roman (German Edition)
rausgenommen. Es gab genügend Hinweise, und von deinen Vorgesetzten hätte jemand in der Lage sein müssen, sie zu deuten. Aber wenn du Wert darauf legst, die ganze Schuld auf dich zu nehmen, dann frag dich doch mal, warum es dir so wichtig war, die Geschichte zu erzählen.« Sie machte eine Pause, und Kitty war nicht sicher, ob sie antworten sollte. Aber dann hatte Constance wieder Energie gesammelt und fuhr fort: »Ich habe mal einen Mann interviewt, der sich im Lauf des Gesprächs über die Fragen, die ich ihm stellte, immer mehr zu amüsieren schien. Schließlich wollte ich wissen, was er denn so komisch fand, und er hat mir erklärt, seiner Erfahrung nach würden die Fragen des Interviewers meistens mehr über ihn aussagen als die Antworten über den Interviewten. Er war überzeugt, dass er bei unserem Gespräch weit mehr über mich erfahren hatte als ich über ihn. Ich fand das sehr interessant, und ich glaube, er hatte recht – zumindest in diesem Fall. Ich denke oft, dass ein Artikel mindestens so viel über den Menschen offenbart, der ihn geschrieben hat, wie über das Thema selbst. Auf der Journalistenschule lernt man, dass man die eigene Person beim Schreiben möglichst heraushalten soll, weil man angeblich nur dann unvoreingenommen berichten kann, aber häufig müssen wir uns erst einmal in das Thema hineinversetzen, um es überhaupt zu verstehen, um eine Beziehung dazu zu kriegen und dem Leser zu helfen, sich damit zu identifizieren. Sonst fehlt dem Artikel das Herz, und die Geschichte könnte genauso gut von einem Roboter erzählt werden. Aber das bedeutet nicht, dass man allem die eigene Meinung einimpft. Ich mag es nicht, wenn ein Journalist mir in einem Artikel erklärt, was er über das Thema denkt. Wen kümmert es denn, was ein einzelner Mensch denkt? Aber eine Nation, eine Klasse, das eine oder das andere Geschlecht – das interessiert mich viel mehr. Ich meine damit, dass man sich allen Aspekten einer Geschichte mit Verständnis nähert und den Lesern zeigt, dass hinter den Worten immer auch ein Gefühl steht.«
Kitty wollte lieber nicht darüber nachdenken müssen, was es über sie selbst aussagte, dass sie über die fragliche Geschichte berichtet hatte. Am liebsten wollte sie die ganze Katastrophe einfach vergessen, wollte nie wieder darüber sprechen müssen – was leider unmöglich war, da der Sender verklagt worden war und Kitty am nächsten Tag wegen übler Nachrede vor Gericht erscheinen musste. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte es satt, darüber zu grübeln, hatte es satt zu analysieren, wie es eigentlich dazu gekommen war. Aber plötzlich spürte sie das Bedürfnis, Buße zu tun und sich für alles zu entschuldigen, was sie jemals falsch gemacht hatte, nur um sich nicht mehr ganz so wertlos zu fühlen.
»Ich muss dir was beichten.«
»Gern, ich liebe Beichten.«
»Weißt du, als du mir damals den Job gegeben hast, war ich total aufgeregt, und der erste Artikel, den ich für dich schreiben wollte, war tatsächlich der über die Raupe.«
»Wirklich?«
»Natürlich konnte ich die Raupe nicht interviewen, aber sie sollte die Grundlage bilden für einen Artikel über Menschen, die es einfach nicht schaffen loszufliegen, darüber, was es bedeutet, wenn man ständig zurückgehalten wird, die Flügel beschnitten bekommt.« Sie schaute ihre Freundin an, die krank und abgemagert in ihrem Bett lag und mit großen Augen zu ihr aufblickte. Einen Moment kämpfte sie mit den Tränen. Sie war sicher, dass Constance ganz genau verstand, was sie meinte. »Ich habe angefangen, über das Thema zu recherchieren … es tut mir leid«, stieß sie hervor, schlug die Hand vor den Mund und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen, aber es gelang ihr nicht. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich hab mich geirrt. Mit der Raupe, von der ich dir erzählt habe. Aus der Oleanderraupe wird doch ein Schmetterling, ein Nachtfalter genaugenommen, der Oleanderschwärmer.« Kitty kam sich hochgradig albern vor, weil sie ausgerechnet jetzt weinen musste, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es war nicht die missliche Lage der Raupe, die sie so traurig machte, sondern die Tatsache, dass sie so schlecht recherchiert hatte, damals wie heute, und dass sie deshalb jetzt solchen Ärger hatte. »Der Sender hat mich suspendiert.«
»Die haben dir einen Gefallen getan. Warte, bis Gras über die Sache gewachsen ist, dann kannst du wieder loslegen.«
»Ich weiß nicht, ob ich das noch will. Ich habe Angst, dass
Weitere Kostenlose Bücher