Hundert Namen: Roman (German Edition)
nutzt, um ein besserer Reporter und – was viel wichtiger ist – ein besserer Mensch zu werden. Als du vor zehn Jahren zum Vorstellungsgespräch bei mir aufgetaucht bist – weißt du noch, was für eine Geschichte du mir da verkaufen wolltest?«
Kitty lachte und zuckte innerlich ein bisschen zusammen. »Nein«, log sie.
»Natürlich weißt du das. Na ja, wenn du es nicht sagen willst, dann sag ich es eben. Ich hab dich gefragt, wenn du jetzt sofort etwas für mich schreiben müsstest, egal über welches Thema, was für eine Geschichte würdest du dir aussuchen?«
»Wir müssen das echt nicht noch mal durchkauen. Ich war ja dabei.« Kitty war knallrot geworden.
»Du hast geantwortet«, fuhr Constance unbeirrt fort, ohne auf Kittys Bemerkung einzugehen, »dass du von einer Raupe gehört hättest, die es einfach nicht geschafft hat, ein Schmetterling zu werden …«
»Ja, ja, ich weiß.«
»Und dass du gerne darüber schreiben würdest, wie es sich anfühlt, wenn einem dieses schöne Erlebnis verwehrt bleibt. Dass du wissen möchtest, wie es sich für die Raupe anfühlt, zusehen zu müssen, wie sich andere Raupen in Schmetterlinge verwandeln, während sie die ganze Zeit weiß, dass sie selbst es nicht schafft. Unser Gespräch hat am Tag der Wahl des US-Präsidenten stattgefunden, und am gleichen Tag ist ein Kreuzfahrtschiff mit fünfhundert Passagieren an Bord gesunken. Ich habe an diesem Tag zwölf Vorstellungsgespräche geführt, und du warst die Einzige, die weder die Politik noch die Schiffskatastrophe erwähnt hat und auch nicht davon gefaselt hat, dass sie unbedingt mal einen Tag mit Nelson Mandela verbringen möchte. Was dich am meisten interessiert hat, war diese arme kleine Raupe.«
Jetzt konnte Kitty ein Grinsen doch nicht mehr unterdrücken. »Na ja, ich kam frisch vom College, ich glaube, ich hatte noch zu viel Gras im Blut.«
»Nein, daran lag es nicht«, flüsterte Constance und griff wieder nach Kittys Hand. »Du warst die Einzige, die mir in diesem Gespräch aufrichtig gestanden hat, dass sie keine Angst hat zu fliegen, sondern vielmehr befürchtet, es nicht zu können.«
Kitty schluckte schwer, den Tränen nahe. Aus ihr war ganz sicher noch kein Schmetterling geworden, und momentan war sie weiter davon entfernt denn je.
»Manche Leute behaupten, dass Angst keine gute Motivation zum Handeln ist, aber wenn man keine Angst hat, wo ist dann die Herausforderung? In Situationen, in denen ich meine Angst akzeptiert und mich der Herausforderung gestellt habe, war meine Arbeit immer am ertragreichsten. Und als dann dieses junge Mädchen vor mir saß, das fürchtete, nicht fliegen zu können, da habe ich gedacht: ›Aha, das ist die Richtige für uns.‹ Darum geht es doch bei Etcetera . Natürlich berichten wir über Politik, aber wir berichten auch über die Menschen, die dahinterstehen, wir interessieren uns für ihre emotionale Reise, nicht nur für ihre Prinzipien, wir wollen hören, wie sie zu ihren Überzeugungen gekommen sind, was sie erlebt und welche Gründe dazu geführt haben, dass sie an das glauben, wofür sie jetzt eintreten. Ja, manchmal schreiben wir auch über gesunde Ernährung, aber nicht über irgendein Bio-Dies und Vollkorn-Jenes, sondern über das Warum und über das Wer . Bei uns geht es um Menschen, um Gefühle, um Emotionen. Vielleicht verkaufen wir weniger, aber wir haben mehr zu sagen – natürlich ist das nur meine persönliche Meinung. Etcetera wird deine Artikel weiterhin veröffentlichen, Kitty – jedenfalls solange du über das schreibst, was für dich wahr ist, und nicht über irgendein Thema, von dem jemand dir einredet, dass es eine super Geschichte ist. Niemand kann ernsthaft so tun, als wüsste er genau, was die Leute lesen oder hören oder sehen wollen. Sie wissen es meistens selbst nicht, und man erkennt es immer erst im Nachhinein. Aber darum geht es ja, wenn man etwas Originelles, etwas Eigenes erschafft. Es geht darum, etwas Neues zu entdecken, und nicht darum, das Alte wiederzukäuen, um den Markt zu befriedigen.« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Es war meine Geschichte«, sagte Kitty leise. »Ich kann niemand anderem die Verantwortung dafür in die Schuhe schieben.«
»An einer Story sind immer mehrere Leute beteiligt, nicht nur der Autor, und das weißt du auch. Wenn du mit der Idee zu mir gekommen wärst und ich mich – rein hypothetisch – bereiterklärt hätte, das Thema zu bringen, hätte ich den Beitrag rechtzeitig wieder
Weitere Kostenlose Bücher