Hundert Namen: Roman (German Edition)
bevor. Der Beitrag war vor vier Monaten, im Januar, ausgestrahlt worden, aber erst durch den Prozess, der morgen eröffnet werden sollte, war die Geschichte in die Schlagzeilen geraten. Inzwischen kannten weit mehr als eine halbe Million Menschen Kittys Gesicht, ihren Namen und wussten von dem katastrophalen Fehler, den sie gemacht hatte.
Natürlich war auch Kitty klar, dass ihr Fall nicht allzu lange im Gedächtnis der Öffentlichkeit haftenbleiben würde, aber ihr Ruf in der Branche war durch den Vorfall unwiderruflich beschädigt. Sie wusste, welches Glück sie hatte, dass Etcetera – das Magazin, das von Constance gegründet und herausgegeben wurde – sie weiterbeschäftigte und dass sie dieses Glück einzig und allein der Tatsache zu verdanken hatte, dass Constance sie vorbehaltlos unterstützte. Zurzeit passierte ihr das nicht oft, und obwohl Bob stellvertretender Herausgeber des Magazins und zweifellos ein guter Freund war, konnte Kitty nicht sicher sein, ob sie ihren Job auch ohne Constances Einfluss weiter behalten würde. Ihr graute bei dem Gedanken, dass ihre Freundin womöglich bald nicht mehr Teil ihres Lebens sein würde – weder in privater noch in beruflicher Hinsicht. Seit Kitty in den Beruf eingestiegen war, hatte Constance sie geführt, ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, ihr aber gleichzeitig die Freiheit gelassen, ihre eigene Stimme zu finden und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Kitty hatte ihre Erfolge immer auf ihr eigenes Konto verbuchen können, aber das bedeutete natürlich auch, dass sie auch selbst für ihre Fehler geradestehen musste. Und Letzteres bekam sie im Moment besonders deutlich zu spüren.
Als ihr Handy in ihrer Tasche zu vibrieren begann, ignorierte sie es zunächst, wie sie es schon die ganze Woche über getan hatte. Seit allgemein bekannt war, dass ihr Fall vor Gericht ging, wurde sie von einigen Leuten, die sie eigentlich für Freunde gehalten hatte, regelrecht drangsaliert, einen Kommentar abzugeben. Mit sehr unterschiedlichen Taktiken: Manche platzten einfach mit ihrem Anliegen heraus, andere versuchten es auf die Mitleidstour. »Du weißt ja, wie es ist, Kitty, du kennst ja den Stress, unter dem wir alle stehen. Mein Chef hat rausgekriegt, dass wir befreundet sind, deshalb erwartet er jetzt von mir, dass ich etwas über dich in Erfahrung bringe.« Wieder andere luden sie aus heiterem Himmel zum Essen oder auf einen Drink ein, einer sogar völlig willkürlich zum Hochzeitstag seiner Eltern und ein weiterer zum fünfundachtzigsten Geburtstag seines Großvaters. Kitty war auf keines dieser Angebote eingegangen, aber sie hatte eine ganze Menge über angebliche Freunde gelernt und strich einen nach dem anderen von ihrer Weihnachtskartenliste. Nur ihr Freund Steve, mit dem sie auf dem College Journalismus studiert hatte, fehlte bisher noch. Steve träumte von einer Karriere als Sportreporter, aber bisher waren Tratsch-Artikel über das Privatleben von Fußballstars das Sportlichste, worüber er berichten durfte. Er war es gewesen, der ihr vorgeschlagen hatte, sich für den Job bei Etcetera zu bewerben. Ganz zufällig hatte er ein Exemplar des Magazins im Wartezimmer bei einem Arzt in die Hand genommen, während er auf Kitty wartete, die sich die Pille danach verschreiben ließ. In der Nacht zuvor hatten sie ihren ersten und einzigen Versuch unternommen, miteinander ins Bett zu gehen, ein Versuch, der sie zu der Einsicht gebracht hatte, dass sie vom Schicksal dazu bestimmt waren, für immer einfach nur Freunde zu bleiben. Als Kitty jetzt an ihn dachte und das hartnäckige Handyklingeln hörte, hatte sie plötzlich eine Eingebung, stieg vom Rad und angelte das Telefon aus der Tasche. Es war tatsächlich Steve, aber sie spielte trotzdem mit der Idee, den Anruf einfach wegzudrücken. Sie misstraute ihm. Die Folgen ihrer Reportage für Thirty Minutes hatten ihren Instinkt so durcheinandergebracht, dass sie nicht mehr wusste, wem sie vertrauen konnte und wem nicht. Aber schließlich nahm sie das Gespräch doch an.
»Kein Kommentar«, fauchte sie, statt sich zu melden.
»Wie bitte?«
»Kein Kommentar, hab ich gesagt. Du kannst deinem Chef ausrichten, dass du nicht mit mir gesprochen hast, weil wir uns verkracht haben, was ja durchaus passieren kann, ich bin nämlich echt entsetzt, dass du tatsächlich den Nerv hast, mich anzurufen und unsere Freundschaft auf diese Art zu missbrauchen.«
»Rauchst du seit neuestem Crack?«
»Was? Nein. Warte, ist das schon Teil
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