Hundert Namen: Roman (German Edition)
– auszusehen, wenn sie sich auf ihren Text konzentrierte.
Mit offenem Cabrio-Verdeck, die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, traf Sally vor der zentralen Busstation ein. Geduckt und mit so vielen Haaren vor dem Gesicht wie nur möglich, verließ Kitty ihr Versteck neben dem Verkaufsautomaten.
»Alle um mich herum lesen die Zeitung«, erklärte sie, nachdem sie ihre Freundin umarmt hatte. »Aber wahrscheinlich bin ich einfach nur paranoid, und die meisten interessieren sich überhaupt nicht für den Artikel über mich, weil das Erdbeben viel wichtiger ist. Oder nicht? Sag mir bitte, dass die alle über das Erdbeben lesen.«
»Was denn für ein Erdbeben?«, fragte Sally ohne eine Spur von Ironie.
Kitty seufzte. »Ist es nicht dein Job, über so etwas Bescheid zu wissen?«
»Am Wochenende arbeite ich nicht.«
»Offensichtlich.« Kitty blickte zu den grauen Wolken hoch, die sich in der Richtung ballten, in die sie unterwegs waren. »Vielleicht solltest du das Dach lieber zumachen, es sieht nach Regen aus.«
Sally lachte, als hätte sie in diesem Punkt Insiderinformationen, an die sie tatsächlich glaubte. »Es soll aber heute nicht regnen.«
»Ich dachte, du hast am Wochenende frei.«
»Aber ich halte trotzdem die Augen offen«, erwiderte sie achselzuckend, und sie lachten beide.
»Wohin willst du jetzt eigentlich genau?«
»Nach Straffan, zu einer Schmetterlingsfarm.«
»Warum?«
»Ich interviewe die Frau, die sie leitet. Sozusagen. Sie weiß noch nichts davon, dass sie interviewt werden soll.«
»Sei vorsichtig. Versuchst du dich zu revanchieren?«
Kitty lächelte, aber das Lächeln erstarb ziemlich schnell. »Wenigstens werde ich garantiert nicht mit ihr schlafen, um an ihre Geschichte ranzukommen.«
Sally schnappte nach Luft. »Du hast mit ihm geschlafen?«
»Ja, und ich bin ein verabscheuenswürdiger Mensch«, stöhnte Kitty, schlug die Hände vors Gesicht und rutschte auf ihrem Sitz nach unten.
Als Sally sie voller Mitgefühl anschaute, erklärte Kitty ihr, was in der vorletzten Nacht passiert war.
»Haben deine Eltern angerufen?«, fragte Sally, nachdem ihre Wut ein wenig verraucht war.
»Ja. Um mir wieder einmal mitzuteilen, wie peinlich ihnen alles ist und dass sie sich furchtbar schämen. Ich höre Mum einfach nur noch zu, bis sie alles bei mir abgeladen hat. Ich glaube, es hilft ihr, mich zu beschimpfen, aber sonst gibt es nichts Neues.« Kitty blickte wieder zum Himmel empor, und ein Regentropfen landete auf ihrem Gesicht.
»Hast du das gespürt?«
»Was?«
»Regen.«
»Es regnet heute aber nicht«, wiederholte Sally zuversichtlich.
Zehn Minuten später mussten sie am Straßenrand halten, während Sally das Dach von Hand schloss.
»Das ist ungewöhnlich«, sagte sie und blickte ein paarmal zum Himmel auf. Kitty versuchte, ihr Grinsen zu verbergen.
Als sie eine Stunde und fünfzehn Minuten später das Schmetterlingsmuseum in Straffan erreichten, waren sie beide wieder voll auf dem Laufenden über ihr jeweiliges Leben. Das weitläufige Grundstück lag am Rand des Dorfs. Direkt neben dem Museum, das in den Sommermonaten täglich geöffnet war, lag ein hübsches kleines Wohnhaus, das Museum selbst bestand aus einem Tropenhaus mit einer Brücke über einen kleinen Teich, und überall flatterten Schmetterlinge herum.
Kitty fragte das junge Mädchen an der Rezeption nach Ambrose Nolan und wurde an einen Mann namens Eugene weiterverwiesen, der eine Fliege trug und ihr erklärte, dass Ambrose keine Führungen machte. Als er erfuhr, dass Kitty Journalistin war, bot er ihr sofort eine persönliche Tour durch das Museum an, das heute, an einem Sonntag mit einigermaßen gutem Wetter, ziemlich gut besucht war, hauptsächlich von Familien mit Kindern. Eugene war so vergnügt und voller Lebensfreude, dass Kitty es nicht übers Herz brachte, sein aufgeregtes Geplapper über die Schmetterlinge, die er offensichtlich von Herzen liebte, zu unterbrechen. Seine Kenntnisse über die Spezies schienen unerschöpflich, und Kitty hätte sich nicht gewundert, wenn er mit jedem Schmetterling im Tropenhaus per Du gewesen wäre.
»Viele der tropischen Schmetterlinge widmen sich hier der Fortpflanzung, man kann also den gesamten Lebenszyklus eines Schmetterlings beobachten«, erklärte er, als sie zum Tropenraum gingen. »Hier sehen Sie, wo die Tiere ihre Eier legen, wie die Raupen die Futterpflanzen fressen, die sorgfältig getarnten Puppen, und wenn man Glück hat, ist man sogar
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