Hundert Namen: Roman (German Edition)
höchst ungewohnter Anblick, und wieder fand sie, dass er viel jünger und auch attraktiver aussah als der gestresste Egomane im schicken Jackett, der durch die Büros patrouillierte. Als er Kitty auf sich zukommen sah, verfinsterte sich sein Gesicht.
»Kann ich dich zurückrufen, Gary?«, sagte er ins Telefon und legte dann abrupt auf. »Das war Gary, der Anwalt, mit dem ich schon den ganzen Vormittag telefoniere, um rauszufinden, wo wir in dieser ganzen Angelegenheit eigentlich stehen.«
»Wie meinst du das? Warum ein Anwalt?«
»Du hast doch heute Morgen die Zeitung gelesen, oder nicht?«, fragte er in sarkastischem Ton. »Obwohl – ich hab ganz vergessen, dass du sie ja nicht zu lesen brauchtest, weil du das Interview ja schon kanntest, bevor es gedruckt wurde. Weißt du, da ist dieser Absatz, in dem steht, dass die Anzeigenkunden von Etcetera vorhaben, sich abzuseilen, wenn wir dich nicht suspendieren.«
»Ja, aber …«
»Und deshalb sind jetzt auch die anderen Anzeigenleute, die an sich nicht vorhatten, ihr Geld aus Etcetera rauszunehmen, in Panik geraten und überlegen, ob sie womöglich das Gleiche tun sollten, weil es womöglich ihrem Image schadet, in unserer Zeitschrift Anzeigen zu schalten«, beendete er seine Erklärung so laut, dass er fast schrie.
Kitty zuckte zusammen. So wütend hatte sie Pete noch nie erlebt. Nörgelig, gestresst und schlecht gelaunt, das schon, aber nicht dermaßen aufgebracht.
»Glaubst du, ich hab das absichtlich getan?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Himmel, Pete, wenn ich wirklich meine Seite der Geschichte erzählen wollte, hätte ich es wesentlich besser gemacht als dieses Geschmiere hier, meinst du nicht? Ich bin auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an Constances Artikel einem alten Freund aus Collegezeiten begegnet, der keine Ahnung zu haben schien, was mir bei Thirty Minutes passiert ist. Also sind wir was trinken gegangen, um ein bisschen zu reden, und im Verlauf einer ganzen Nacht – ja, einer ganzen Nacht, Pete, denn es hat ihm nicht gereicht, mich für seinen Artikel zu benutzen, er musste mich auch noch demütigen und mir das Gefühl geben, eine totale Schlampe zu sein –, in der Nacht also habe ich ihm erzählt, was passiert ist, natürlich hab ich das, ich war ja total durcheinander. Es war alles so ein Stress, und ich dachte, ich muss mal mit jemandem darüber reden, mit jemandem, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat, mit einem Mann, der mir obendrein noch erzählt hat, er würde einen Roman schreiben, Herrgott nochmal, und der sich für meine Sorgen zu interessieren schien, und als ich heute früh aufgewacht bin, hab ich diesen Mist in der Zeitung gesehen, und ich bin echt total erschöpft, weil ich bei einem Freund auf der Couch schlafen musste, und jetzt bin ich fix und fertig, und es tut mir alles schrecklich leid. Okay? Es tut mir wirklich leid.« Sie merkte gar nicht, dass sie zu weinen angefangen hatte, bis Pete ihr ein Taschentuch hinhielt und sie feststellte, dass ihr Gesicht nass war und ihre Nase lief.
»Okay«, sagte er leise. »Okay, das ist wirklich eine ganz andere Geschichte. Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich geirrt habe.«
Kitty nickte nur zum Dank und wischte sich weiter die Augen.
»Stimmt das mit den Attacken auf deine Wohnung?«
»Letzte Nacht waren es Feuerwerkskörper. Eine ganze Batterie offensichtlich. Fünftausend Knaller. Deshalb hab ich ja bei dem Freund übernachtet.«
»Mein Gott, das hätte gefährlich werden können«, meinte er besorgt.
»Ist ja nichts passiert.«
»Hast du die Polizei verständigt?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Warum nicht?«
Sie zuckte die Achseln, obwohl sie den Grund natürlich genau kannte.
»Du hast ganz schön was hinter dir, stimmt’s?«
Sein Mitgefühl brachte ihre Augen schon wieder zum Überlaufen. »Ich hab einen blöden Fehler gemacht, Pete, einen echt schlimmen, unprofessionellen Fehler, und ich habe den Ruf eines Mannes zerstört, womöglich sogar sein Leben, und dafür habe ich Strafe verdient, aber …« Ihre Tränen gewannen wieder die Oberhand, und sie konnte kaum sprechen. »… aber jetzt reicht es. Ich möchte einfach gute Artikel über nette Menschen schreiben, ich möchte wieder das tun, was ich liebe, was meine Welt wieder normal macht. Und ich möchte, dass man mir wieder glaubt. Ich möchte, dass du mich anschaust und mir zuhörst, ohne ständig an mir zu zweifeln. Ich stelle mich selbst doch schon genug in Frage, Pete, ich brauche
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