Hundert Namen: Roman (German Edition)
Hinterflügelunterseite.«
Während Eugene abgelenkt war und sich immer mehr Leute versammelten, um ihm zuzuhören, rückte Kitty behutsam von der Gruppe ab. Sie war unterwegs zum Picknickbereich, als sie sah, dass Eugene skeptisch zu ihr herüberblickte. Doch als sie diskret in Richtung Damentoilette deutete, nickte er verständnisvoll und vertiefte sich wieder in seinen Vortrag. Sobald er wegsah, eilte Kitty zu dem Gartentor mit dem Zutritt-verboten-Schild, drückte es auf und betrat ein wahres Wunderland: Über einem langgestreckten Rasen flatterten in einer faszinierenden Farbenpracht unzählige Schmetterlinge hin und her, so viele, dass sie in dem Bemühen, ihr auszuweichen, Kittys Nase streiften. Am anderen Ende der Wiese sah sie eine gebückte Gestalt.
»Entschuldigen Sie?«, rief Kitty.
Abrupt richtete die Gestalt sich auf, drehte sich um und wandte Kitty dann den Rücken zu, über den eine lange rote Haarmähne bis fast hinunter zur Taille wallte.
»Stehen bleiben!«, rief sie, und die Stimme war so gebieterisch, dass Kitty ihr sofort gehorchte.
»Entschuldigen Sie bitte«, erwiderte Kitty. »Mein Name ist …«
»Sie dürfen hier nicht rein«, unterbrach sie die Frauenstimme.
»Ja, ich weiß, es tut mir sehr leid, aber ich …«
»Das ist ein Privatgrundstück, bitten gehen Sie!«
Ihre Stimme war fest, aber Kitty glaubte auch einen panischen Unterton herauszuhören, und sowohl in ihren Worten als auch in ihrer Haltung war etwas Ängstliches.
Kitty wich ein paar Schritte zurück, aber dann überlegte sie es sich anders – sie hatte nur diese eine Chance, und die musste sie nutzen.
»Ich heiße Kitty Logan«, rief sie. »Ich arbeite für die Zeitschrift Etcetera und wollte gern mit Ihnen über die sensationelle Einrichtung sprechen, die Sie hier aufgebaut haben. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, das wollte ich nicht.«
»Um die Presse kümmert sich Eugene«, blaffte sie. »Raus jetzt!« Etwas milder fügte sie hinzu: »Bitte.«
Wieder machte Kitty ein paar Schritte zurück, aber am Tor versuchte sie es noch einmal. »Ich habe eigentlich nur eine einzige Frage: Hat Constance Dubois irgendwann im Lauf des letzten Jahres Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«
Sie hatte erwartet, wieder angeschrien oder gar mit Gartengeräten beworfen zu werden, aber stattdessen herrschte plötzlich Stille.
»Constance«, sagte die Frauenstimme plötzlich, und Kittys Herz begann zu rasen. »Constance Dubois«, wiederholte Ambrose. Doch sie drehte sich noch immer nicht um.
»Ja, Constance Dubois. Sie kennen sie also?«, fragte Kitty.
»Sie hat mich angerufen. Einmal. Und nach einer Raupe gefragt.«
»Wirklich?«, erkundigte sich Kitty, wie unter Schock, und ihre Gedanken rasten. Hatten die Namen womöglich etwas mit ihrem Vorstellungsgespräch bei Constance zu tun? »Die Oleanderraupe? Die Raupe des Polka-Falters?«
»Sagt Ihnen das etwas?«
»Ja, natürlich«, antwortete Kitty atemlos, während sie zu verarbeiten versuchte, was das für ihren Artikel bedeuten konnte.
Da drehte Ambrose sich endlich um, aber außer ihren wilden Haaren konnte Kitty nichts von ihr sehen. »Sie können drinnen auf mich warten«, sagte sie und deutete mit der Grabegabel auf die offene Tür zu ihrem Haus.
Verdutzt sah Kitty sie an. »Danke.«
Sie trat ein und stand in der Küche. Das Haus war einfach, ein bezauberndes Cottage, zwar modernisiert, aber ohne seine Vergangenheit zu verleugnen. Ein großer Herd beherrschte den Raum, noch warm vom Frühstück. Kitty setzte sich an den Küchentisch und beobachtete, wie die Frau ihre Arbeit fertig machte und dann mit gesenktem Kopf, so dass nur die wilden roten Haare zu sehen waren, auf das Häuschen zueilte. Ohne aufzublicken, kam sie herein und fragte Kitty, ob sie eine Tasse Tee wollte.
Obwohl Kitty ein schlechtes Gewissen hatte, weil Sally sich immer noch von Eugene über die Schmetterlinge Irlands belehren lassen musste, sagte sie ja. Ambrose wandte ihr beim Teekochen die meiste Zeit den Rücken zu, und als sie dann an dem großen rechteckigen Tisch Platz nahm, setzte sie sich nicht Kitty gegenüber, sondern auf einen Stuhl ganz am anderen Ende, an der Ecke, von ihr abgewandt. Es dauerte lange, bis ein Gespräch in Gang kam, und als endlich ein Blickkontakt zustande kam, fiel Kitty sofort auf, dass Ambrose zwei verschiedenfarbige Augen hatte: Eines war leuchtend grün, das andere dunkelbraun. Und nicht nur das – als ihre dichten Haare sich nur einen Zentimeter von dort
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