Hundert Namen: Roman (German Edition)
wegbewegten, wo Ambrose sie so geflissentlich platzierte, konnte Kitty die Verfärbung sehen, die sich von der Mitte der Stirn über die Nase, die Lippen und über das halbe Kinn zog, bis sie unter der hochgeschlossenen Bluse verschwand. Das Brandmal – wenn es das denn war – sah aus wie eine Flamme, die unregelmäßig über die rechte Seite von Ambroses Gesicht züngelte, und kaum dass Kitty einen kurzen Blick darauf erhascht hatte, wurde der Haarvorhang wieder zugezogen, und nur noch ein leuchtend grünes Auge starrte über den Küchentisch.
Kapitel 17
Wenn jemand behauptet hätte, dass Ambrose noch nie zuvor mit einem menschlichen Wesen gesprochen hatte – Kitty hätte ihm geglaubt. Ambrose war nicht unhöflich oder unverschämt, aber sie hatte keine Ahnung, wie man Konversation machte. Abgesehen von dem einen unbeabsichtigten Mal, als Kitty einen Blick auf das entstellte Gesicht und die unterschiedlichen Augenfarben erhascht hatte, gab es keinen Blickkontakt. Vielleicht hatte ihr Kittys Reaktion missfallen, jedenfalls sah Ambrose sie nicht wieder an. Und nicht nur das: So wie sie am anderen Ende des Tischs saß, diagonal zu Kitty und obendrein von ihr weggedreht, zeigte sie nur ihre rechte Körperseite. Zumindest waren die Haare hinters Ohr gestrichen und man sah ein ganzes Stück blasse Porzellanhaut. Ambrose war ohne Zweifel die ungewöhnlichste Person, der Kitty je begegnet war, nicht nur äußerlich, sondern auch vom Charakter her.
Ihr Umgangston war ebenso verstörend wie ihr sonstiges Verhalten. Sie sprach sehr leise, schien sich dessen auch gelegentlich bewusst zu werden und redete dann plötzlich wesentlich lauter. Aber dann vergaß sie es offenbar wieder, und ganze Worte verschwanden im Flüstern. Kitty musste dauernd die Ohren spitzen.
»Sie hat mich angerufen. Ja, das war. Letztes Jahr. Denn es kam mir. Sehr ungewöhnlich vor.« Die letzten drei Worte schrie sie beinahe, und als hätte sie sich damit selbst erschreckt, verfiel sie wieder in ihren Flüsterton. »Sie wollte mich besuchen. Und ein Interview mit mir machen. Ja, das war es. Ich hab nein gesagt. Dass ich keine. Interviews gebe.«
»Hat sie auch gesagt, worum es in dem Interview gehen sollte?«
»Eugene. Ich hab ihr gesagt, sie soll mit Eugene sprechen. Über das Museum. Er erledigt die Öffentlichkeitsarbeit. Nicht ich. Aber sie hat gesagt, es geht nicht um das Museum. Sie wusste nichts von den Schmetterlingen.«
»Also ging es um Sie persönlich?«
»Das hat sie gesagt. Ich hab geantwortet, dass ich das nicht will. Die Liste. Sie meinte, sie lässt mich trotzdem auf der Liste. Keine Ahnung, was das heißt.«
»Das ist eine Liste mit hundert Namen von Leuten, mit denen sie sprechen und über die sie schreiben wollte«, erklärte Kitty.
»Sie hat mich noch mal angerufen. Ein paar Tage später. Da hatte sie eine Frage wegen einer Raupe.«
»Die Oleanderraupe.« Kitty lächelte.
»Sie hat gelacht. Sie fand es komisch. Auf nette Art. Sie war überhaupt sehr nett«, fügte sie sanft hinzu, und endlich hob sie die Augen, sah Kitty für einen Sekundenbruchteil an und schaute dann schnell wieder weg, als wüsste sie, dass Constance nicht mehr da war. »Sie hat gefragt, ob sie mich besuchen kann. Um mit mir zu sprechen. Das Museum zu sehen. Ich hab ihr gesagt, das Museum kann sie sich gern ansehen. Aber nicht mich. Nur das Museum, aber das ist bloß im Sommer offen. Frühling. Sie hat mich letzten Frühling angerufen. Aber sie ist nie gekommen.«
Kitty musste sich nicht abwenden, um ihre Tränen zu verbergen, denn Ambrose schaute sie ohnehin nicht an.
»Sie ist krank geworden«, erklärte Kitty, und ihre Stimme war nur ein Krächzen. »Letztes Jahr hat man bei ihr Brustkrebs festgestellt, und vor zwei Wochen ist sie gestorben.«
»Mein Daddy ist auch an Krebs gestorben.«
Zwar war das keine übliche Beileidsbezeugung, aber man hörte Ambroses Mitgefühl.
»Sind Sie hier, um ihre Bestellung abzuholen?«
Kittys Tränen versiegten automatisch. »Was für eine Bestellung?«
»Oh. Ich dachte, deshalb sind Sie gekommen. Ich hab ihn für Constance aufgehoben. In der Ausstellung. Ich hab ihn aufgehängt, aber keiner wollte ihn kaufen. Im Rahmen. Einen Polka-Falter. Sie hat gesagt, er ist ein Geschenk.«
Abrupt sprang Ambrose auf und verließ hastig den Raum. Mit den langen, wehenden Haaren und der weiten Kleidung fühlte Kitty sich unwillkürlich an einen flatternden Schmetterling erinnert, und während sie auf die Rückkehr der
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