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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Sie haben die Lektion umgesetzt, haben die Situation analysiert, eine Lösung erarbeitet, Voraussetzungen geschaffen, Mittel bereitgestellt, Instrumente organisiert, Listen erstellt, Personal ausgebildet, Abläufe bestimmt, den Müll beiseite geschafft, und sie taten dies ruhig und bestimmt, von keiner Panik geleitet, zügig, aber ohne Hast, sie erledigten die Aufgabe, wie wir es ihnen gezeigt hatten, umsichtig, die Eventualitäten einplanend. Hätten sie sich nicht an unsere Vorgaben gehalten, so hätten sie keine achthunderttausend Menschen umbringen können, nicht in hundert Tagen.
    Ich habe Théoneste geschlagen, immer wieder, und er hat es hingenommen, bis er aufgestanden und wortlos verschwunden ist. Ich bereute meine Schläge bereits, als er mir den Rücken zuwandte, denn wer würde mich nun mit Lebensmitteln und Wasser versorgen? Noch hatte ich genug Wasser für eine halbe Woche, aber schon am nächsten Tag machte ich den ersten einer Reihe von Fehlern, die mich beinahe umgebracht hätten. Mittags gab es heftige Niederschläge, ein Wolkenbruch flutete den Garten, in Minuten stand der Rasen wie ein Reisfeld unter Wasser, und ich nutzte die Gelegenheit, um mich im Regen zu waschen, wie ich es schon oft getan hatte, aber diesmal seifte ich mich ein, mit Agathes Seife, die sie auf dem Markt gekauft hatte, und der Kokosduft ließ sie für einen Moment erstehen, sie war bei mir, und ich nahm noch eine Handvoll und wusch mir damit die Haare, so lange, bis ich bemerkte, dass der Regen nachgelassen hatte.
    Schon im nächsten Augenblick riss die Wolkendecke auf, ich stand da, eingeseift, vom Himmel verarscht. Ich wälzte mich im nassen Gras, was die Sache nur noch schlimmer machte, eine klebrige braungrüne Soße bedeckte meinen ganzen Körper. Zurück im Haus, wischte ich so gut es ging den Körper sauber, aber kaum war die Seife eingetrocknet, begann es mich am ganzen Leib zu jucken. Ich zwang mich, nicht zu kratzen, aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, die Erleichterung, die mir die Fingernägel verschafften, war von sehr, sehr kurzer Dauer, und dann kam der Juckreiz zurück, schlimmer als zuvor, die Nägel hatten die Haut aufgerieben, die Seife brannte in den Schrunden wie Feuer. Mir blieben zehn Liter Wasser, und es ging gegen Ende April, die äquatoriale Tiefdruckzone zog wieder nach Süden, von wo sie im Januar gekommen war. Die nachmittäglichen Niederschläge verloren an Heftigkeit, bald würde es nicht mehr regnen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich dann mit Trinkwasser versorgen würde. Ich durfte keinen Tropfen verschwenden, aber um es kurz zu machen, nach einer Nacht ohne Schlaf und einem Kopf, der sich anfühlte, als hätte ich ihn nicht in Seife, sondern in Säure getaucht, war ich so zermürbt, dass ich mich mit Trinkwasser wusch, zwei ganze Flaschen vergeudete, ein unverzeihlicher Fehler.
    Théoneste war nicht gekommen, und es hatte nicht geregnet, und wenn es zwei weitere Tage so bliebe, würde ich gezwungen sein, Haus Amsar zu verlassen und in der Stadt nach Trinkwasser zu suchen, eine Vorstellung, die mich in schiere Panik versetzte. Aber schon nach sechsunddreißig Stunden war der Durst so groß, dass ich mich entschloss, am nächsten Tag einen Ausbruch zu wagen. Es kam nicht so weit, denn noch bevor ich losgehen konnte, hörte ich in der Auffahrt Schritte, dann Stimmen, und kurz darauf erschienen sechs Milizionäre in meinem Garten. Es waren junge Burschen, beinahe noch Kinder, in grotesker Kostümierung: die Farben ihrer Partei zeigten blaugelbe Boubous an, um den Kopf hatten sie T-Shirts gebunden, im Gürtel steckte Grünzeug, mit dem sie ihre Herkunft bezeugten. Bananenblätter für jene aus Kigali und dem Süden, Tee für die aus Gisovu, Kaffeezweige für die Burschen aus dem Osten. Ich hätte sie für Karnevalisten gehalten, hätten sie keine Waffen getragen, Macheten, mit Nägeln bewehrte Knüppel, und einer hatte irgendwo eine Handgranate ergattert, die er wie ein Schmuckstück an einer Schnur um den Hals trug. In einem von ihnen erkannte ich den Jungen, der damals im Le Palmier die Gäste bedient hatte. Vince hieß er, und ich kannte ihn als scheuen, beinahe mädchenhaften Jungen, der kaum je ein Wort sprach. Jetzt glich er einem der vier Reiter der Apokalypse, die Augen hinter einer riesigen Pilotenbrille versteckt, die rot gefärbten Haare loderten wie ein bengalisches Feuer. Pausenlos suchte er mit den Augen die Umgebung ab, weiß Gott nach was, nach Fallen, Minen,

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