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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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zuerst, ihm sei etwas zugestoßen, bis der Mann ohne Kommentar auf die Knie sank und zu beten begann, das Vaterunser, und mittendrin, ich glaube, es war bei
Und gib uns unser tägliches Brot
, löste er seine gefalteten Hände und wischte sich etwas von der Wange, das ihn augenscheinlich juckte, ein weißrotes glänzendes Klümpchen, und erst da sah ich, dass nicht Dreck, sondern Blut sein Hemd sprenkelte.
    Théoneste plünderte nicht bloß. Er gehörte zu jenen, die samstags zur Gemeindearbeit erschienen, so wie sie es immer getan hatten. Nur hoben sie keine Gräben aus und mähten auch keine Böschungen. Er hatte sich wohl mit anderen aus seinem Viertel bei der Hauptpost versammelt, ausgerüstet mit Macheten und Pausenbroten, bevor sie hinaus in die Hügel zogen und Jagd auf Menschen machten, und ich habe später gehört, wie pflichtbeflissen sie dabei waren, wie ordentlich sie ihr Handwerk erledigten, wie eine gewöhnliche Arbeit, und so, wie sie früher Punkt fünf die Arbeit am Entwässerungsgraben niederlegten, so hielten sie es auch jetzt, bei ihrem Mordhandwerk. Wenn sie fünf Minuten vor Feierabend einen Vater umgebracht hatten, dann ließen sie den Rest der Familie leben, denn schließlich war auch morgen noch ein Tag und es war nicht angezeigt, Überstunden zu machen.
    In den langen Stunden, in denen ich in Haus Amsar saß und Radio hörte, mit den Batterien, die Théoneste den Toten gestohlen hatte, habe ich oft den klugen Reden der Fachleute gelauscht. Wie sie über das Chaos in Kigali sprachen, über die Hölle, die über das Land hereingebrochen war, was ohne Zweifel zutraf, aber jetzt weiß ich, dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht, und manchmal, wenn ich mir dieses Land hier ansehe, das Gleichmaß, die Korrektheit, mit der alles abgewickelt wird, dann erinnere ich mich daran, dass man jenes Höllenland auch die Schweiz Afrikas nannte, nicht nur der Hügel und der Kühe wegen, sondern auch wegen der Disziplin, die in jedem Lebensbereich herrschte, und ich weiß jetzt, dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist, in dem jeder seinen Platz kennt und auch nicht der unscheinbarste Strauch zufällig an einer bestimmten Stelle wächst und kein Baum willkürlich gefällt wird, sondern durch einen Beschluss zur Rodung bestimmt wird, durch einen Beschluss, der auf einem dafür bestimmten Formular und von einer dafür eingesetzten Behörde erlassen wird. Und manchmal, wenn ich das Räderwerk dieser Gesellschaft reibungslos ineinandergreifen sehe, wenn ich nichts höre, kein Knirschen, kein Knacken, nur leise das Öl zwischen den Zahnrädchen schmatzen höre, die Menschen sehe, die all dies hinnehmen, eine Ordnung befolgen, die sie nicht erlassen haben und niemals hinterfragen, dann frage ich mich, ob wir im Gegenzug auch das Ruanda Europas werden könnten, und ich weiß, wenn uns etwas davor bewahren wird, dann bestimmt nicht die Wohlbestalltheit unserer Gesellschaft, unsere Disziplin oder auch nur der Respekt vor den Institutionen, den Obrigkeiten, unsere Liebe zur Ordnung und zur Routine, ganz im Gegenteil. All das ist kein Hindernis, sondern die Voraussetzung für einen Massenmord.
    Nichts liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug einer Maßnahme, und darin, das muss man doch zugeben, gehören wir zu den Weltmeistern. Das ist unser Stolz, die Voraussetzung für alles, was uns auszeichnet und was wir als so verbreitungswürdig betrachten, dass wir es ins Herz des schwarzen Kontinents trugen.
    Ich habe die Berichte gelesen, die man über unsere Arbeit verfasst hat, und ich habe noch die Worte des kleinen Paul im Ohr, am Morgen seiner Flucht, nachdem er an der Avenue de l’Armée an einem Haufen Leichen vorbeigekommen war, den auch ich gesehen hatte und von dem ich zuerst glaubte, es seien ein paar Ballen alter Kleider, die man in den Straßengraben geworfen hatte, bis ich dann die Fliegen sah, so dicht wie ein schwarzer Vorhang, als wollten sie die Toten vor unseren Blicken beschützen. Wie konnten wir uns nur so irren, stammelte der kleine Paul, neben sich zwanzig Kilo Gepäck in zwei Koffern, mehr war nicht erlaubt, der eine war gefüllt mit ein paar Brocken seiner liebsten Mineralien. Wie konnten wir nur so scheitern, stammelte er, und auch die Kommissionen sprachen in ihren ausgewogenen, gerechten Berichten vom Scheitern der Direktion, aber wir sind nicht gescheitert, denn wenn wir ihre Lehrer waren, so waren sie bestimmt keine schlechten Schüler.

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