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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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hoch.
    Schweizer, rufe ich, ich bin Schweizer.
    Er starrt mich an, als verstünde er kein Wort. Dann sieht er sich nach seinen Kumpanen um, ich gehe einfach weiter, immer weiter, ohne nach rechts und links zu schauen.
    Im Straßengraben liegen Leichen.
    Und dann entschließen sich meine Beine zur Flucht.
    Einen Moment glaube ich, die Milizionäre würden mir folgen, aber sie schicken mir nur ihr Lachen hinterher. Einen rennenden Weißen haben sie noch nicht oft gesehen.
    Ich laufe, so schnell ich kann, bis ich das rote Tor von Haus Amsar sehe. Es steht offen. Habe ich es nicht wieder geschlossen?
    Von der Veranda Geräusche, als würde jemand Tische rücken.
    Es ist Théoneste, der irgendwelche Kisten stapelt.
    Monsieur! Was tun Sie hier? Warum sind Sie noch hier?
    Ja, warum bin ich hier?
    Sie haben meinen Wagen gestohlen. Ich komme nicht zum Flughafen. Werde wohl ein paar Tage hierbleiben müssen. Was ist in diesen Kisten?
    Er antwortet nicht.
    Na?
    Zeug, das ich gefunden habe.
    Wo gefunden?
    Hier und da. Braucht keiner mehr. Dachte, ich könnte es hierlassen. Ein paar Tage bloß.
    Er deutet mein Schweigen als Zustimmung, nickt zum Dank.
    Was wollen Sie jetzt tun, Monsieur?
    Hierbleiben. Warten, bis wieder eine Maschine geht.
    Das ist nicht gut, Monsieur, nicht gut für Sie. Es geschehen schlimme Dinge. Sollten Sie besser nicht sehen.

Ich hab’s schon gesehen, Théoneste, ich hab’s schon gesehen.
    Tut mir leid, Monsieur.
    Schon gut. Ist nicht deine Schuld. Hast du Wasser da?
    Er schüttelt den Kopf.
    Ich muss los. Bald wird es dunkel. Und sie gehen besser auch ins Haus. Morgen bringe ich Wasser.
    Er geht, und ich mache mich daran, eine Liste aufzustellen, eine Liste der hilfreichen Dinge. Zwei Schachteln Zündhölzer – italienische Produktion, nicht aus Holz, sondern aus gewachstem und gerolltem Zellstoff; sechs Fischkonserven, Sardinen in Pflanzenöl, auf der Büchse ein Fischkutter mit rotem Steuerhaus; drei Packungen Käsecracker, eine davon angebrochen; ein Karton Baked Beans von Heinz, ein kleiner Kanister Diesel; ein Radio, eine halbe Flasche Wasser, Marke
Les Sources de Karisimbi
, drei Wochen alt und abgestanden. Ich drehe den Hahn in der Küche auf, Luft entweicht, dann zwei, drei Tropfen einer stinkenden, braunen Brühe. Dasselbe im Badezimmer. Kein Strom im ganzen Haus. Zum Glück habe ich das Notstromaggregat, aber ich werde mit dem Diesel haushälterisch umgehen. Ich muss jetzt klug sein. Stelle Töpfe in den Garten. Suche kurz vor fünf im Radio die Deutsche Welle. Sie berichten nichts, was ich nicht schon wüsste. Nichts, das mir in meiner Lage hilft. Doch die Stimmen in der vertrauten Sprache trösten mich, aber ich bin klug und drehe das Radio wieder aus. Weiß Gott, wie lange die Batterien halten müssen. Dann setze ich mich mit ein paar Kräckern auf das Sofa. Trinke ein paar Schlucke, das Wasser schmeckt schal. Die Lichtkegel werden schwächer, und dann, von einer Minute auf die andere, erlöschen sie, und die lange Nacht beginnt. Théoneste kommt, bringt Wasser, Bohnen, einen Fleischspieß. Stellt seinen Plunder unter. Ich schreibe Agathe. Packe. Warte. Sie kommt nicht. Der Flieger geht. Setze mich aufs Sofa. Schaue hinaus in den Garten, wo es wieder Nacht wird, und ich bleibe sitzen und höre mein Herz schlagen.
    Als Kind, wenn ich auf der Schüssel saß, habe ich mir manchmal ausgemalt, wie es wäre, wenn meine Stadt von einer Atombombe vernichtet würde und der einzig sichere Ort vor den einmarschierenden Russen das Scheißhaus bliebe. Ich überlegte, wo ich mein Bett hinstellen, wie ich mir einen improvisierten Schreibplatz einrichten und wie ich kochen würde. Welche Vorräte ich in welcher Menge mitbringen oder wie ich sie verstauen könnte. Ich war überzeugt, es einen Monat aushalten zu können, vielleicht sogar zwei, und diese Zuversicht und die genaue Planung gaben mir ein gutes Gefühl, bestärkten mich, auch unter schwierigsten Verhältnissen bestehen zu können. Jetzt, wo es so weit gekommen war, lachte ich über meine Einfalt von damals. Nicht der mangelnde Raum, nicht das Eingeschlossensein machten mich beinahe verrückt. Es waren die fehlenden Menschen. Ich sehnte mich nach einem vertrauten Geplauder, einer gesetzten Unterhaltung. In der Not führte ich Selbstgespräche, freilich ohne mich zu hören, bis mir plötzlich meine Stimme zu Bewusstsein kam, wie ein Wecker, der morgens lange schellt, bevor man schließlich doch erwacht. Es war jemand anders, dem ich zuhörte, und

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