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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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anderen Molekülen wuchsen sie sich zu einer Wolke aus, genau über mir, hoch und weiß, an den Rändern wie angekokelt. Wind kam auf, war das ein gutes Zeichen? Wie einen Pullover vor das Fenster hängte ich meine Zunge in die Zugluft. Die Wolke verformte sich, vereinigte sich mit anderen, und dieses Band bedeckte jetzt gut drei Viertel des Himmels, bauschig, verheißungsvoll. Und hatte ich jetzt nicht einen Tropfen gespürt, irgendwo an den Zehen, oder war das eine Sinnestäuschung? Ein Donnern, ich wusste nicht, war es ein Gewitter oder eine Granate, aber was jetzt wie Regen klang, waren bloß Schritte im Kies. Die Milizionäre waren zurück. Ich machte mir keine Gedanken, was für Menschen drei Meter unter mir Flaschen entkorkten, ich wusste nur, meine Zellen schrieen nach Flüssigkeit, und sie hatten davon, und dann stand ich auf, wie ferngesteuert, und bevor mein Schatten auf die Kerle fiel, rief ich Vinces Namen.
    Über den Windfang kletterte ich in den Garten hinunter, und es war mir egal, was sie mit mir anstellten, sollten sie mich erschlagen, wenn sie mich vorher nur trinken ließen.
    Vince packte seine Keule, die anderen standen ebenfalls auf, formierten sich in einem Halbkreis hinter ihrem Anführer.
    Ich rief ihn erneut bei seinem Namen. Er ließ den Knüppel sinken und nahm die Pilotenbrille ab, und ich sah in ein von Tod und Alkohol vernebeltes, trübes Augenpaar, in ein Gesicht, das etwas von einem Neugeborenen hatte, mit den Zügen eines Greises – als hätten sie in der Dunkelheit, aus der sie kommen, einem Geheimnis beigewohnt, einem Mysterium, das wir vergessen haben. Doch als er mich erkannte, verwandelte sich Vince für einen Augenblick zurück in den Jungen, der den Gästen Bananenlimonade und Fleischspießchen gebracht und sich immer knapp und höflich fürs Trinkgeld bedankt hatte. Er reichte mir die Hand, die kalt war und kindlich, ohne Kraft und ohne ein weiteres Wort bat ich um Wasser, und er lief zurück zu seinen Kumpanen, von denen der eine ihm eine Flasche reichte. Als ich getrunken hatte, als ich fühlte, wie das Wasser in meine dehydrierten, übersalzten Zellen strömte, fühlte ich Dankbarkeit, reine, tiefe Dankbarkeit und eine Verbundenheit mit diesen Jungen, die mir nicht mehr garstig erschienen, die mir keine Angst mehr einflößten, es war, als hätte ich mich mit meinen Feinden verbrüdert, und das Gefühl, von diesen Mördern anerkannt zu werden als jemand, dem man in der Not zu trinken gibt, erfüllte mich mit Liebe, mit Selbstwert. So viele schlagen sie tot, dachte ich, und für mich haben sie Wasser und freundliche Worte übrig.
    Ich weiß nicht, wann ich mich als so etwas Besonderes fühlte, und ich hörte auf einmal die Stimmen aus dem Radio wieder, BBC und France International, in deren Kommentaren diese Burschen die schlimmsten Teufel waren, Brandschatzer, Vergewaltiger, und ich wusste, das waren sie tatsächlich, ich wusste, was sie noch vor wenigen Stunden getan hatten, was sie in den letzten achtzig Tagen getan hatten, und trotzdem sah ich sie als Freunde, als Brüder gar, als Menschen, wie ich einer war, als Artgenossen. Sie mordeten, ja, ich hatte keine Ahnung, das Blut wie vieler Dutzend Menschen an diesen Hölzern und Macheten klebte. Sie wussten es wohl selbst nicht. Doch mich hatten sie verschont. Mehr noch: Sie ließen mir ein ganzes Brot und ein Stück Wurst da und versprachen, am nächsten Tag wiederzukommen. Sie wollten sich um mich kümmern, es schien, als plagte sie das schlechte Gewissen, nicht weil sie mordeten, nur weil sie es unter meinen Augen taten. Ich sollte nicht glauben, ich hätte es mit Tieren zu tun, die zu keiner Brüderlichkeit fähig waren. Als ich noch ein Kind war, lebte in unserem Viertel ein Mann, dem die Leute Kaninchen zum Schlachten brachten. Er hasste diese Arbeit, aber es gab niemanden, der sie ihm abnehmen wollte, und wenn ich an seinem Haus vorbeikam und die abgebalgten Kaninchen am Schuppen hängen sah, dann steckte er mir verstohlen Süßigkeiten zu. Er wollte nicht, dass ich ihn für einen schlechten Menschen hielt, schimpfte über die Leute, die Kaninchenbraten fressen wollten, aber ihn die Drecksarbeit machen ließen. Und ich glaubte ihm. Jemand musste die Kaninchen töten, das war unabänderbar, und das Viertel hatte ihn dazu bestimmt, aber das hieß nicht, dass er kein Herz hatte. Nur die Süßigkeiten schmeckten nach gekaufter Zuneigung, nach Sündenvergeltung, aber ich aß sie trotzdem, weil ich es für meine Pflicht

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