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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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dieser Jemand war eingeschlossen im Haus Amsar, Rue Deputé Kayokou, Kigali, aber meine Identität, jener David Hohl, mit dem ich mich verbunden fühlte, hatte nichts zu tun mit diesen unzusammenhängenden Reden, dieser Stimme und dem dazugehörenden Körper, mit diesem Leib, diesen hundertsechzig Pfund Fleisch, den Fingernägeln, die ich mir unentwegt mit den Wachshölzern putzte, weil ich dem Dreck dieses Landes nicht erlauben wollte, in meine Ritzen zu dringen. Ich fühlte mich verantwortlich für die Hülle, das ja, so verantwortlich wie für den Bussard, der draußen im Garten seine Sprünge machte und nach Futter schrie. Dieser Körper war auf meine Pflege und Fürsorge angewiesen, aber ich war nicht dieser Körper. So, wie dieser Körper mit dem Namen David Hohl, von Beruf Administrator, angestellt bei der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (stimmte das noch? Galt mein Vertrag noch? Wurde das Gehalt weiterhin bezahlt?), so, wie dieser Leib in diesem Haus eingeschlossen war, so war ich selbst in diesem Körper eingeschlossen, in diesem Kopf, dem Knochengerüst, überzogen mit etwas Haut, gepolstert mit Fett und Muskeln. Diese Spaltung war kein gutes Zeichen, ich wusste das. Den eigenen Worten zuzuhören war nicht gut. Eingeschlossen sein war nicht gut. Alleine sein war nicht gut. Leichengestank war nicht gut. Kaum etwas essen war nicht gut. Nicht schlafen war nicht gut. Ich würde meinen Verstand verlieren müssen, so, wie alle hier den Verstand verloren hatten. Vielleicht würde ich eines Tages nicht mehr in meinen Körper zurückfinden, aber was würde es für einen Sinn ergeben, mitten im Wahnsinn, der um mich herum ausgebrochen war, einen gesunden Verstand zu behalten? Vernunft ist abhängig von den jeweiligen Umständen, und zum ersten Mal begriff ich, was mit Agathe in den letzten vier Jahren geschehen war. Sie hatte sich angepasst, um von der Umwelt nicht abgestoßen zu werden wie ein Fremdkörper.
    Haus Amsar war bald gefüllt von der Plünderware, die Théoneste anschleppte, bei mir verstaute, bis er sie in bare Münze tauschen konnte, allerhand Bücher, Schreibmappen, solarbetriebene Taschenrechner, eine verstaubte Pfauenfeder, die er in eine Flasche auf die Durchreiche stellte. Und weil er mit seiner Verschönerungsaktion noch nicht zufrieden war, hängte er ein Hufeisen mit der eingravierten Losung
Bonne Chance!
über den Kamin. Der Mann kam mir vor wie unsere alte Katze, die jede erjagte Maus auf die Fußmatte legte. Plunder für ein ganzes Brockenhaus schleppte er an. Wandteller mit Pariser Stadtansichten, einen Feldstecher, mit dem ich manchmal aufs Dach stieg und die Stellungen der Rebellen beobachtete – das Zeug der Toten, so wie das meiste Zeug in den Brockenhäusern das Zeug von Toten ist, mit dem feinen Unterschied, dass die Box mit neunundneunzig Gesellschaftsspielen für die ganze Familie, der Kugelschreiber aus der Weltraumforschung, mit dem man auch kopfüber schreiben konnte, der Wandkalender aus Stoff mit der gestickten Jagdszene aus englischen Landen, der Eierstecher, der vergoldete Schlüsselanhänger der Caisse Commerciale – dass all dies die Hinterlassenschaft von Menschen war, die man erschlagen hatte. Ich gab ihm zu verstehen, was ich von den Plünderungen hielt, aber er meinte, es sei besser, man rette wenigstens die Ware. Es mache niemanden wieder lebendig, wenn man das Zeug dem Regen und den Termiten überließ. Die Toten hätten keine Verwendung dafür, er aber könne mit dem Geld Essen kaufen, und er habe nicht nur für seine Kinder, sondern auch für mich zu sorgen, und weil ich tatsächlich auf seine Rationen angewiesen war, ließ ich ihn gewähren. Gewissensbisse sind eindeutig leichter zu ertragen als Hunger und Durst, und ich dachte nicht länger darüber nach, dass ich einem Plünderer mein Überleben verdankte.
    Natürlich ahnte ich es bereits, aber ich wollte es nicht wahrhaben, bis er an jenem Samstagnachmittag ins Haus Amsar kam, spät, zu spät eigentlich, wenn er noch vor der Nacht wieder zu Hause sein wollte. Ich hatte mich auf die Veranda gesetzt, und wie eine Erscheinung stand Théoneste auf einmal vor mir, abgehetzt, schwer atmend, schmutzig. Als sei er vom Himmel gefallen oder dem Erdboden entstiegen. Er roch nach Schweiß, Bier, und dazu nach etwas drittem – ein Geruch, den ich nicht einordnen konnte. Er hatte nichts dabei, kein Essen und kein Bier, er starrte ins Leere und schien, als ich ihn ansprach, überhaupt nicht zu hören. Ich dachte

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