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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Leichtes gewesen wäre. Die Bälger rochen nach einem Leben zwischen Kuhdung und saurer Milch, und ich dachte, es wäre so übel nicht, zu werden wie diese Kinder, wenn meine Haut schwarz würde und das Haar kraus, wenn ich gerade noch meinen Namen kennte, aber nicht mehr wüsste, wie man ihn schreibt, dafür den geheimen Namen einer jeden Pflanze hersagen könnte,
Imhati, Amateshe, Bicatsi
und
Amatunda
, und dieser herbe Geruch nicht mehr in meiner Nase stechen würde, einfach, weil ich selbst so röche, nach Acker, nach Milch und nach Vieh.
    Meine ersten Wochen in Kigali fielen in die letzten Tage der guten alten Zeit, die letzten Momente des Friedens, und jeder Friede zeichnet sich durch Langeweile aus. Es dauerte kein Vierteljahr, bis sich die Dinge in ihr Gegenteil verkehrten und hinter der Maske der Normalität das Ungeheuer sichtbar wurde. Aber noch war in der Direktion wenig von der kommenden Katastrophe zu spüren. Eine kleine Unruhe höchstens, die unsere Projekte kaum bedrohte. Es war der Verfall der Kaffeepreise, der uns die größten Sorgen bereitete. Die Amerikaner hatten das internationale Exportabkommen gekündigt. Im Kalten Krieg wollten sie mit hohen Preisen verhindern, dass die Kaffeebauern zu den Kommunisten überliefen, aber jetzt gab es keine Kommunisten mehr, und die Amerikaner verloren das Interesse an einer künstlichen Stützung der Preise. Im März vor meiner Ankunft hatten die Exportgenossenschaften für jedes Pfund Arabica neunzig US-Cent erhalten. Einen Monat später, im April, waren es noch siebzig. Bis in den Oktober schien sich der Preis etwas zu erholen, dann, genau in dem Moment, als die Rebellen angriffen, fiel er ins Bodenlose. Am Ende des Jahres erhielten die Bauern noch halb so viel wie im Januar, lächerliche siebenundvierzig Cent, und nach und nach gingen alle vor die Hunde. Zuerst die Bauern, dann die Röster, und schließlich die Exportfirmen. Woraus bestand denn die Ökonomie dieses Landes? Aus fünfunddreißigtausend Tonnen Kaffee. Und aus ein paar Teestauden.
    Der Preis erholte sich nicht, nicht im Januar, nicht im Februar, und auch nicht im März. Wir waren froh über die mickrigen fünf Cent, die das Pfund im April zulegte, und dass er nicht weiter sank und sich das ganze nächste Jahr bei einem halben Dollar einpendelte. Die Direktion bezahlte den Bauern fünfzig Millionen zur Stützung der Preise. Aber es half nichts. Die Regierung hatte keine Einnahmen, und langsam ging ihr das Geld aus, dieses Beruhigungsmittel für alle Unzufriedenen. Die Beamten begannen, sich nach neuen Einnahmequellen umzusehen. Wes’ Brot ich fress, des’ Lied ich sing, heißt es doch, und als es nicht mehr der Präsident war, der ihnen das Maul stopfte, begannen die Vögelchen auf einmal zu singen, jedes mit seiner eigenen Stimme. Aus dem Gishwati hörte man, dass die Bauern ihre Stauden ausrissen und Bananen pflanzten. Das Bier daraus konnten sie immer verkaufen und vor allem war die Steuer darauf nicht so hoch wie für den Kaffee.
    Die Zeit lief gegen uns, jeder Tag brachte uns der Katastrophe näher, aber mir ging es von Tag zu Tag besser.
    Mehr als zwei Wochen hatte ich in der Herberge der Presbyterianer gelebt, länger als ursprünglich geplant. Es hatte geheißen, man warte auf die Farbe, die jeden Tag aus der Schweiz in Kigali eintreffen müsse, aber ich hatte die Verzögerung für eine Prüfung in Frustrationstoleranz gehalten, ein Wort, das in der Direktion oft benutzt wurde und eine wesentliche Eigenschaft des erfolgreichen Kooperanten war, zu dem ich geformt werden sollte.
Unterkunft
– das war das Wort, das Marianne, die Koordinatorin, benutzte, nicht etwa
Wohnung
oder gar
Haus
, und ich rechnete mit einem Loch am Stadtrand, bestenfalls einem Studio in einem der heruntergekommenen Häuser am Hauptmarkt, der einzig üblen Ecke Kigalis, wo Kerle mit geröteten Augen und schlechten Zähnen herumlungerten. Ich bereitete mich innerlich auf eine weitere Übung in Demut vor, eine Lektion, die den letzten Hochmut aus meinem verwöhnten Europäerherzen tilgen sollte; und als mich der kleine Paul ins Haus Amsar führte, glaubte ich zuerst, man erlaube sich einen Scherz. Es war der zauberhafteste Ort, den ein Mitglied meiner Familie jemals bewohnt hat, ein eingeschossiges, kalkweißes Haus, mit vier Zimmern und einer Veranda, die hinaus in den Garten ging – obwohl die Vokabel Garten dieses bunte Meer aus Puderquastensträuchern, Christusdornen und Wandelröschen nur unzureichend

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