Hundert Tage: Roman (German Edition)
dämpften die tropische Sonne, und oft hatte ich das Gefühl, ich sitze in der Stube meiner Großmutter, die bis zu ihrem Tod im Oberland im Schatten einer Fluh gelebt hat und keine fünf Monate im Jahr die Sonne sah. Es war seltsam still, und wer immer in das Koordinationsbüro kam, senkte unwillkürlich seine Stimme, als betrete er eine Kirche oder das Wartezimmer bei seinem Arzt.
In diesen ersten Tagen wagte ich es einmal, dem kleinen Paul, der seinen Arbeitsplatz in einem Zimmer am anderen Ende des Korridors hatte, eine Frage zuzurufen, doch bekam ich keine Antwort, sondern sein Kopf erschien in der Tür, rot vor Zorn, und ich musste mir beibringen lassen, dass ich gefälligst meinen faulen Hintern in Bewegung zu setzen und an seinen Schreibtisch zu treten hatte, bevor ich ihn ansprechen durfte. Falls es einmal eilen sollte, dann durfte ich auch das Telefon benutzen, aber es eilte nie, wie ich bald begreifen sollte.
Es war Paul, stellvertretender Koordinator und zweiter Mann in Kigali, der mich in die Arabesken des Dienstweges einführte, in die verschlungenen Geheimnisse der korrekten Abwicklung eines operativen Vorganges, in das Universum der weißen, blauen und grünen Kopien, und wenn er die korrekte Tabulatorenbreite bei der Aufstellung eines Projektantrages zu Händen der operationellen geografischen Sektion erläuterte, dann hielt ich den Atem an, nicht, weil die Sache so spannend war, einfach, damit ich Pauls Ausführungen einigermaßen verstehen konnte.
Die Geräuschkulisse im Koordinationsbüro überstieg niemals den Pegel einer protestantischen Beerdigung. Im Korridor stand ein backofengroßer Weltempfänger – und auch er wagte nur ein Flüstern. Die entfernten Stimmen von Swiss Radio International wisperten, durch die Übertragung in Langwellen von allen schmerzenden Höhen und Tiefen gereinigt. Ein dicker Teppich, grau, mit bordeauxroten Schweizer Kreuzen, die sich zu Punkten verkleinerten und schließlich im Flor auflösten, schluckte auch das letzte vorwitzige Geräusch, das Klacken etwa, wenn ich einen Bleistift auf die Resopalplatte meines Schreibtisches fallen ließ, oder wenn der kleine Paul nieste, was bestimmt fünfzig Mal am Tag geschah. Der Stellvertreter war oft erkältet, er vertrug die Klimaanlage nicht, und weil er ein rücksichtsvoller Mensch war, nieste er mit geschlossenem Mund und drückte dazu sein Gesicht in die Armbeuge. Pünktlich um vierzehn Uhr verabschiedete sich das Radio in die Sendepause, und dann war Pauls verschämtes Zischen über Stunden der einzige Hinweis, dass ich nicht allein war. Die Botschaft erschien mir dann wie ein gekühltes Mausoleum, in dem jedes Leben zum Stillstand gekommen war, und wenn das Lachen der Damen aus der Schalterhalle nicht zu hören war – ein einziger, langgezogener Vokal, ein Laut zwischen A und O, der beinahe resigniert klang, als habe sich die Lacherin längst damit abgefunden, wie hoffnungslos komisch das letzte Unglück war, das in Gestalt eines visaersuchenden Menschen an ihren Schalter trat und in achtundneunzig von hundert Fällen zurückgewiesen wurde, dann stand ich vorsichtig von meinem Stuhl auf, schlich hinüber zu Pauls Büro, wo ich den zwergenhaften Mann über irgendwelche Papiere gebeugt sah, die damenhafte Lesebrille auf der Nase, die Schreibtischlampe so knapp über dem Hinterkopf, dass er sich bei der kleinsten Bewegung daran stoßen musste. Ich wartete, bis der kleine Paul sich bewegte, die Brille zurück auf die Nasenwurzel schob, mit dem goldenen Kruzifix um seinen Hals spielte, eine Seite umblätterte, und dann wusste ich wieder, dass die Zeit nicht stehen geblieben war und ich getrost an meinen Platz zurückkehren und den feuchten Halbmonden zusehen konnte, die sich unter meiner Haut gebildet hatten und verschwanden, kaum hob ich die Unterarme.
Nach Feierabend, um fünf Uhr, blieb mir eine knappe Stunde Tageslicht, um mich in Kigali umzusehen. Ich schaute dem Treiben auf der Avenue de la Paix zu, trank im Le Palmier eine Bananenlimonade, viel mehr hatte die Stadt nicht zu bieten. Kigali war ein Kaff, verschlafen, ordentlich, aufgeräumt, langweilig. Der erste Resident der deutschen Kolonialmacht, ein Mann namens Kandt, hatte sie vor achtzig Jahren gegründet, im Nirgendwo der geografischen Mitte des alten Königreiches, unweit der Furt im Nyabarango, durch die der Herzog von Mecklenburg und dieser von Götzen ein paar Jahrzehnte vorher als erste Weiße ins Land gekommen waren. Die Siedlung lag an der Kreuzung
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