Hundertundeine Nacht
untersten Anschlag, und die Anklage ebenso.«
Beide strahlten mich an wie Weihnachtsmänner, die einen Jungen, der es eigentlich nicht wirklich verdient hatte, in ihren aufgeschnürten Weihnachtsmann-Rucksack schauen ließen.
»Was mein Kollege meint«, sekundierte Jablonske, »ist zum Beispiel, daß aus Mord Körperverletzung oder Tötung auf Verlangen wird, oder aus schwerem Raub ein einfacher Ladendiebstahl.«
»Aber ich habe niemanden ermordet, und auch in keinem Laden was geklaut, in letzter Zeit zumindest nicht.«
Ich hielt ein bißchen Unwissenheit für angebracht. Paragraph 211 Mord, Paragraph 212 Totschlag, Paragraph 224 schwere Körperverletzung – die beiden hatten sicher keine Vorstellung, wie genau sich ein Arzt heutzutage mit dem Strafgesetzbuch auskennen muß, um zumindest einen Teil seiner Arbeitszeit außerhalb von Gefängnismauern zu verbringen.
»Ich meinte das als Beispiele«, entgegnete Jablonske indigniert und warf mir einen ziemlich verärgerten Blick zu. »Ist Ihnen zufällig das Strafmaß für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bekannt?«
Mir wurde klar, wir würden doch keine Freunde werden.
Demonstrativ holte ich mir ein zweites Bier, die sehnsuchtsvollen Blicke der beiden waren mir schon bei meinem ersten nicht entgangen. Genüßlich ließ ich den Kronkorken ploppen und nahm einen kräftigen Schluck.
»Sie haben vorhin angedeutet, Ihnen wären die politischen Ansichten meiner Freundin Celine bekannt. Dann müßten Sie auch wissen, daß es in diesen Ansichten nur eine wirkliche Konstante gab: ihr absoluter Pazifismus, ihre bedingungslose Ablehnung jeder Gewalt, gleich zu welchem Ziel. Nie also würde Celine Sprengstoff oder Waffen in den Irak geschmuggelt haben, und erst recht nicht eine Bombe in den Straßen von Bagdad, wie die Behörden dort als Erklärung für ihren Tod behaupten. Und wie, nur mal als kleiner Denkanstoß, ist Frau Bergkamp überhaupt nach Bagdad gekommen? Sie wollte zu den Kurden, in den Norden. Also machen Sie verdammt noch mal endlich Ihre Arbeit. Finden Sie heraus, was dort wirklich geschehen ist, warum meine Freundin, eine deutsche Staatsbürgerin, sterben mußte. Und als ersten Schritt vergessen Sie die haarsträubenden Theorien, die Sie mir aufgetischt haben.«
Jablonske nickte dem Kollegen Waldeck zu, der mir seine Visitenkarte über den Tisch schob.
»Hier erreichen Sie uns jederzeit, wenn Ihnen noch etwas Hilfreiches einfällt, Dr. Hoffmann.«
Als Arzt ohne Ansehen der Person immer zum Helfen verpflichtet, gab ich Jablonske meine Rolle Haushaltstücher mit auf den Weg. Er bedankte sich und kam dann, fast schon auf dem Flur, mit einer eigenartigen Frage.
»Haben Sie eigentlich nach dem Bombenattentat noch einmal von Ihrer Freundin gehört?«
Ich konnte nur den Kopf schütteln, die beiden schoben endlich ab. Sicher würden sie in der nächsten Kneipe eine Bierpause einlegen.
Kapitel 3
Empfand ich Trauer um den Tod von Celine? Ich meinte ja, doch wie soll man sich je der Worte für seine Gefühle sicher sein? Nie wird man wissen, was der andere tatsächlich fühlt, wenn er von Trauer spricht, von Liebe, von Schmerz. Jedenfalls empfand ich einen enormen Verlust, eine Art Amputation.
Bis zur Realität von Celines Sarg auf dem Gabelstapler hatte ich ihren Tod nicht wirklich akzeptiert, immer noch an ein furchtbares Mißverständnis geglaubt, auf eine Verwechslung oder eine irakische Propagandakampagne gehofft. Aber nun begann ich zu begreifen, daß Celine nie mehr über meine blöden Scherze lachen würde, wir nie wieder gemeinsam kochen, in Büros einbrechen oder Mülltonnen nach Indizien durchwühlen würden. Vielleicht würde die Amputationswunde tatsächlich eines Tages nicht mehr so furchtbar schmerzen, obgleich ich mir das im Augenblick nicht vorstellen konnte.
Womit die Leere füllen? Nichts scheint mir unsinniger als ein »Trauerurlaub«, nie war ich so froh über meine Arbeit an der Klinik, wo die Patienten jederzeit einen einwandfrei funktionierenden Doktor ohne private Probleme erwarten. Deshalb war ich dankbar, als ich am nächsten Morgen zum immerwährenden Kampf gegen Pest und Tod und die Widersinnigkeiten unseres Gesundheitssystems in unserer Humana-Klinik einlief, daß sie überhaupt noch existierte.
Erst letztes Jahr schien ihr Schicksal unwiderruflich, ihre Schließung ausgemacht, denn irgendwie mußten die Gelder eingespart werden, die dem Berliner Haushalt durch die Immobiliengeschäfte der
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