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Hundsköpfe - Roman

Hundsköpfe - Roman

Titel: Hundsköpfe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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hatte. Die Parallelen zu Frau Mutters Situation waren zahlreich, und in den folgenden Monaten wurde sie immer häufiger von Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht. Vielleicht war es die nie verarbeitete Trauer über Hans Carlo, vielleicht war es Elisabeth oder der Ausdruck in den Augen ihrer Kinder. Apathie erfaßte sie, Schlaflosigkeit ließ sie rastlos im Haus herumwandern, und sie vermochte selbst Askild nicht mehr in die Schranken zu weisen, wenn er erschien, um unserer Familie zu ein wenig väterlicher Autorität zu verhelfen. Ihre Kinder wurden nebensächlich, sie lebten ihr eigenes Leben, unabhängig von ihr, und häufig fühlte sie sich wie das kleine Mädchen, das allein an einem Waldsee steht und versucht, das größte Eis der Welt zu essen: Brechreiz und kalter Schweiß, tanzende Sterne. Für alles ließ sich eine natürliche Erklärung finden, wofür sie hingegen überhaupt keine Erklärung fand, waren die Erscheinungen, die sie am hellichten Tag überkamen. Erinnerungsfetzen an einen überschwemmten Keller, verschlammte Möbel, lautes Brüllen, wie von einem Motorrad in der Ferne, bei dem Gas gegeben wird. Bald schon begannen sich die Erscheinungen zu einem Film zu sammeln, zu kurzen Sequenzen, die an ihrer Netzhaut vorüberzogen und sie davon überzeugten, daß sie anfing, wahnsinnig zu werden – bis sie plötzlich verstand. Diese Erscheinungen zeigten die gleiche Welt, die sie früher einmal auf einer Reihe von Photographien mit Wasserschäden gesehen hatte: das Inventar des religiösen Universums ihrer Kindheit. Sie spiegelten Welten mit Übereinstimmungen und Zusammenhängen wider. Welten, in denen die Elternlosen sich wieder erheben konnten. Welten, die von der Energie erleuchtet wurden, zu der sie selbst den Kontakt verloren hatte, als sie in der Nacht nach Hans Carlos Begräbnis in eine trotzige Beschwörung verfiel. Hokuspokus, es gibt keine übernatürlichen Wesen, es gibt nichts Mystisches zwischen Himmel und Erde.
    Ihr Leben entglitt ihr. Gereizt fuhr sie Preben an. Eines Tages warf sie eine Milchpackung nach Askild, und noch in der gleichen Nacht gaben die Schotten dem Druck des Wassers nach. Wasserkaskaden, aufgeweichte Briefe und verlaufene Photographien schwappten um sie herum, bis sie in einem See von Treibgut schwamm und glaubte, ertrinken zu müssen. Doch dann hörte sie das Dröhnen eines Motorrades, dann bemerkte sie das Licht, dann trat Er ein, und als sie am nächsten Morgen erwachte, wußte sie sofort, was geschehen war. Hokuspokus – es gibt allerhand übernatürliche Wesen, es gibt sehr viel Mystisches zwischen Himmel und Erde. In einer Schublade fand sie Elisabeths Kreuz, sie putzte es und legte es um … Vor dem Badezimmerspiegel stehend, sah sie nun eine ältere Ausgabe ihrer eigenen Mutter, doch sie verspürte keinerlei Wut gegen die Dame im Spiegel. Nein, nie wieder Wut, jetzt ist Schluß mit all diesem Mist . Natürlich erzählte sie uns davon, aber die Essenz – was Er ihr zugeflüstert hatte, bevor er auf seinem Motorrad verschwand – erzählte sie nur Preben. Wir andere erfuhren es nicht, bis sie drei Jahre später das Haus am Birkebladsvej verkaufte und zusammen mit Preben für Ärzte ohne Grenzen nach Burundi aufbrach. »Das sind doch Wilde und Verrückte da unten«, jammerte Bjørk. »Sie ist die Verrückte«, schaltete sich Askild ein. Niemand von ihnen verstand, daß Waisen zusammenhalten müssen. Daß Leila in dieser Nacht eine schon verworfene Welt wieder annahm und als Belohnung eine Mission erhielt – Bjørk wollte am liebsten nicht darüber reden.
    Großmutter kam auch nie auf die andere unglückliche Geschichte zurück, nämlich die, daß der jüngste in der Reihe von Kindern und Enkelkindern – ja, der mit der Angst vor der Dunkelheit, der von seinem Großvater den Hang zur Malerei geerbt hatte – eines Tages fortging. Es war das letzte, was sie von ihm erwartet hätte. Appelkopp, Knut, ja, sogar Niels hatten das offenbar in sich, aber der Kleine? Sie erinnerte sich an den Tag, an dem es an der Tür ihres Hauses am Tunøvej klopfte. Er grinste von einem Ohr zum anderen und redete über Amsterdam, als ob es die goldene Stadt wäre, ihr eigenes Bergen. Bjørk war glücklich über all dieses Gerede von fremden Städten, bis ihr klarwurde, daß er so viel redete, weil er sich auf dem Weg dorthin befand. Es war, als verlöre Amsterdam etwas von seiner magischen Aura, aber der Kleine schien ihre fehlende Begeisterung nicht zu bemerken. Er

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