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Hundsköpfe - Roman

Hundsköpfe - Roman

Titel: Hundsköpfe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Vater in den letzten anderthalb Jahren Kontakt gehabt, wir hatten auch nicht mit ihm telephoniert, und so fiel es uns schwer zu trauern. Auch die kirchliche Zeremonie, die wir zur Erinnerung an ihn abhalten ließen, führte nicht zu großen Gefühlsausbrüchen. Großmutter schluchzte ein wenig, aber die übrige Zeit schien sie genauso stumm und verschlossen wie wir anderen zu sein.
    Der Spundpfropfen war der einzige, der seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Eines Tages faßte es Stinne so zusammen, daß er sich offenbar vorgenommen hatte, Tränen für die gesamte Familie zu produzieren, denn er heulte vor dem Polizeibeamten, der seine nasale Stimme auf Band aufnahm, und vor den Pressephotographen, die den nasenlosen Schwindler verewigen wollten; und als vor Gericht ein Urteil über ihn gesprochen wurde, hinterließen die Tränen große dunkle Flecken auf seiner Ledermappe: fünfzehn Monate Gefängnis, Beschlagnahme sämtlicher Pfandbriefe, Aktien und Kontobestände sowie das Verbot, neue Firmen zu gründen. Dem Spundpfropfen schien es egal zu sein. Damals hatte meine Schwester bereits mit ihren regelmäßigen Besuchen im Staatsgefängnis von Horsens begonnen. Jeden Mittwoch schwänzte sie die Universität und setzte sich in den Zug, den Blick auf die vorbeirauschenden Felder geheftet, um ein paar Stunden in Gesellschaft des nasenlosen Spundpfropfens zu verbringen. Zunächst, um ihm Informationen zu entlocken. Was hatten sie die letzten anderthalb Jahre gemacht? Wie ging es Vater? Hatte er je von seiner Tochter gesprochen? Vaters letzte Lebensjahre waren wie ein Puzzlespiel, das sich nur langsam vervollständigte, und jeden Mittwochabend wartete ich gespannt auf die jüngsten Berichte. Später, als dem Spundpfropfen sämtliche Auskünfte entlockt waren, besuchte sie ihn weiter. Nie hatte sie vergessen, wie er einst, vor langer Zeit, die Tür ihres Zimmers aufriß, ungebetene Gäste in der Dunkelheit verfolgte, Jimmy einen Kopfstoß versetzte und blödsinnige Bücher in ihr Regal stellte. Nun waren die Rollen vertauscht. Nun war es Stinne, die die Gespenster des Spundpfropfens in die Flucht schlug, die seinen chagallartigen Visionen zuhörte, seiner plötzlichen Erkenntnis, daß er immer ein Zweifler gewesen war, ein halbherziger Ehemann, ein schlechter Vater. Zwischen Tränen und Rotz, der unter der Klappe herausströmte, die die traurigen Reste seiner Nase verbarg, wurden Geheimnisse weitergegeben, und schließlich war der Pakt besiegelt. Stinne wußte nun etwas vom Spundpfropfen, was nie an andere Ohren gedrungen war, und der Spundpfropfen wußte etwas von meiner Schwester, was nur ich und noch drei andere wußten. Sie teilte seine Trauer, wanderte mit ihm in den Sackgassen der Erinnerung, den Mount Blakhsa hinauf und hinunter und ganz zurück bis in seine Kindheit, damals, als der Spundpfropfen ein kleiner dicker Junge war, der mit Zeitungen in den Straßen herumlief und davon träumte, berühmt zu werden. Nun hatte er es geschafft, allerdings nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Allmählich begann seine Offenheit sie allerdings auch ein wenig zu irritieren. Es wurde meiner Schwester ganz einfach zuviel, und sie versuchte, ihn statt dessen auf andere Gedanken zu bringen. »Man kann eine neue Nase bekommen – eine aus Plastik, das ist doch genausogut, oder?« sagte sie und schlug ihn aufmunternd auf die Schulter. »Was machen wir übrigens, wenn du rauskommst?«
    Aber der Spundpfropfen ließ sich nicht so einfach auf andere Gedanken bringen, und es dauerte nicht lange, da genügte es auch Stinne nicht mehr, ihn nur aufzumuntern, ihm sanft übers Haar zu streichen und dabei süße Worte in sein halbes Ohr zu flüstern. Nein, Stinne wurde von einem Gefühl des Mangels eingeholt, einem klaffenden Loch, das in ihr zu wachsen begann, aber es war nicht nur der leere Raum, in dem ehemals ein Vater gewesen war, der sie quälte. Es war etwas anderes, eine zunehmende Leere, eine diffuse Sehnsucht, ein Hunger, der sich nicht stillen ließ, nein, doch nicht etwa der Spundpfropfen! dachte sie, als sie auf dem Heimweg im Zug saß, nicht ein Herr mittleren Alters ohne Nase! Oh Gott, ich sterbe! Doch da war es bereits zu spät, und die Sehnsucht produzierte seltsame Erscheinungen. Der Spundpfropfen in ihren nächtlichen Träumen, der Spundpfropfen bald überall. Immer ungeschickter wurden ihre Versuche, ihn aufzumuntern, wenn er im Staatsgefängnis von Horsens mit zerzaustem Haar auf der Pritsche des Besucherzimmers lag.

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