Hundsköpfe - Roman
war zu spät. Großmutter begann zu weinen. Großmutter trommelte ihm auf die Brust. Großmutter hörte nicht auf zu schlagen, bis sie zusammensank. Und als wäre nichts geschehen, als wären die kubistischen Gemälde der vergangenen fünfzig Jahre nur ein kleines Kuriosum gewesen, ging er zurück ins Haus, schüttete Terpentin in einen Metallbehälter und malte so spielerisch leicht sein erstes Landschaftsmotiv, daß sie staunte: ein Dunst wie bei Turner, ein impressionistisches Flimmern, eine nordische Schlichtheit, die ihr den Atem nahm.
Langsam nahm es Gestalt an – überhaupt nicht in diesem wahnsinnigen Tempo wie früher, nein, es dauerte mehrere Wochen, und vor ihren Augen entstand nach und nach eine Landschaft, in die sie gemeinsam hätten eintreten können, wenn es nicht seine kubistische Unversöhnlichkeit, seinen jazzigen Hang zur Flasche und seine Bluthunde auf einer Ebene in Ostdeutschland gegeben hätte. Und so malte er im Alter von achtzig Jahren eine Möglichkeit, die sie nie ergriffen hatten, eine Liebe, von der sie gerade mal in den ersten Kriegsjahren etwas genossen hatte, als Großvater ein verlegener junger Mann mit bettelnden Augen gewesen war. Er malte Wiesengründe und Hochebenen, er malte dänische Rapsfelder und norwegische Birkenwälder. Doch das war nicht einmal das Seltsamste.
Das Seltsamste war, daß die Bilder schon bald ihren Schöpfer zu verändern begannen, sie wischten den bitteren Zug um den Mund fort, den bösen Blick aus den dunklen Augen. Die Landschaften reagierten. Die Landschaften bekamen ein Eigenleben und begannen, Großvater zu malen, wenn sie nicht hinschaute. Sie konnte die Sanftheit spüren, die mit einemmal von ihm ausging. Es ließ sich nicht vermeiden, daß sie bemerkte, wie schnell ihm die Tränen kamen, wenn sie nachmittags vor dem Fernseher saßen und sich Serien und Soaps ansahen. Eines Tages fiel ihr auf, daß sie ihm das Abendessen servierte, ohne daran zu denken, ob ein paar angebrannte Krustenstücke am Boden des Topfes einen Wutanfall bei ihm auslösen würden.
Doch je sanfter er wurde, desto schmaler wurde er auch, und schließlich sah er wieder aus wie der Muselmann, der fünfzig Jahre zuvor in die Tür des Hauses am Skivebakken getreten war – abgesehen davon, daß der Rücken nicht mehr so gerade war, das Haar nicht mehr schwarz, die Augen nicht mehr braun und die Nase nicht so stolz; eher ähnelte er einem runzligen Vogeljungen, das aus dem Nest gefallen war. Sein Gang wurde lautlos, seine Anwesenheit beinahe unsichtbar, und das Starkbier wurde gegen normales Bier getauscht. Eines Tages entdeckte sie, daß die Tüte, an der er im Flur herumfummelte, nichts anderes enthielt als Leichtbier. An einem anderen Tag ließen sich die Blutreste in der Toilettenschüssel nicht übersehen, doch darüber sprachen sie nicht. Statt dessen schauten sie auf Landschaften. Zum ersten Mal mischte Bjørk sich ein, kam mit guten Ratschlägen oder teilte ihre Ansicht über Patina und Farbwahl mit. Sie wies auf tote Felder in den Bildern hin, auf unharmonische Farbkombinationen, die Askild ohne zu zögern übermalte. Ja, gemeinsam standen sie stundenlang vor diesen fremden Welten, die auf den braunen Leinwänden entstanden, hingen ihren Gedanken nach und starrten in sie hinein; Rapsfelder und Wiesengründe, die immer abstrakter und verschwommener wurden, manchmal hatte Großmutter das Gefühl, sie würde geradezu in ihnen leben, bis Askild eines frühen Morgens im Schaukelstuhl saß und Blut erbrach. Da hatte der Traum ein Ende. Großmutter rief den Arzt, ließ ihn ins Krankenhaus bringen, wo sie ihm einen Tropf an den Arm legten und Morphium gaben, obwohl er sich nie über seine Schmerzen beklagt hatte, oder über den Hundefraß, den er hier bekam – dünnen Milchbrei, Fruchtgrütze, flüssiges Essen in Flaschen … Erst hier hörte sie die Diagnose Magenkrebs, doch es war kein wirklicher Schock für sie, und sie konnte ihm nicht einmal Vorwürfe machen, daß er sich gegen jegliche Form von Behandlung gewehrt hatte, wenn er wie ein Säugling dort saß und an seiner Flasche nuckelte.
Wenn Niels ihn doch so sehen könnte , dachte Bjørk, und wenn Knut doch nach Hause käme, um sich von seinem Papa zu verabschieden . Doch keiner der Söhne – weder ein toter noch ein abwesender – tauchte auf, und es hüpfte auch keine zurückgebliebene Tochter mit einhundert Kilo ins Bett ihres Papas. Dafür erschienen hin und wieder Stinne und der Nasenlose. Es kamen Briefe aus
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