Hundsköpfe - Roman
sagen, »bekommst du dafür ein bißchen was von mir.«
Als nun die Saufkumpane erschienen und gemeinsam mit uns zum Hafen und weiter hinaus zum Fjord spazierten, wurde Bjørk noch einmal überrumpelt. Es war ein warmer, wolkenloser Sommertag, der einzelne Saufbrüder veranlaßte, sich ihrer Hemden zu entledigen, andere sangen Trinklieder, und fast fühlte sich Großmutter in dieser Gesellschaft gutmütiger Trinker richtig wohl. Aber dann kam der feierliche Augenblick, und Appelkopp, der aus Bergen gekommen war, um an der Beerdigung teilzunehmen und bei dieser Gelegenheit Mutter Randis Asche zurück nach Norwegen zu holen, damit sie neben Vater Niels beigesetzt werden konnte, sollte ein paar Worte sagen.
Großmutter hielt die Urne in den Händen, Appelkopp erzählte von allem Guten und allem Schlechten, doch als er seine feine Rede beendete, wurde Großmutter plötzlich von diesen unbekannten Männern überfallen, die sich in einer Reihe vor der Urne aufstellten, jeder mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand. »Wo ist der Löffel?« schrie einer, und sofort wurde ein Löffel hervorgezaubert, und dann begannen sie einfach, sich zu bedienen. Großmutter war sprachlos, während sich die Plastiktüten mit Großvaters Asche füllten und in Hemd- oder Hosentaschen verschwanden, als stünde sie mit einer Schale Süßigkeiten da und nicht mit den irdischen Überresten ihres verstorbenen Mannes, von dem nun nur noch ein Drittel in den Fjord gestreut werden konnte. Großmutter war den Tränen nahe, ihre Hände zitterten, als sie die traurigen Aschereste ausschüttete, und auf dem Heimweg versuchten wir, sie zu trösten: Es sei doch trotz allem Großvaters Letzter Wille gewesen …
Es hätte Großmutter auch nicht so empört, wenn sie nicht in Großvaters letzten Lebensjahren etwas anderes hinter all dem Kubistischen entdeckt hätte, einen sanften und lieben Mann, der sie bei der morgendlichen Tasse Tee und einem halben Brötchen freundlich ansah. Einem Mann, der ihr eine verzaubernde Landschaft nach der anderen schenkte. Landschaften, von denen sie in den folgenden Jahren träumte, und die zur Folge hatten, daß sie keineswegs so auflebte, wie sie es sich eigentlich gedacht hatte. Sie amüsierte sich durchaus nicht ständig im Spielklub oder stürzte sich auf all das, was sie einmal hatte tun wollen – tanzen und singen –, im Gegenteil, sie fühlte, wie sie langsam verkümmerte, sie verspürte eine Sehnsucht, die gleichen Landschaften zu betreten, in die sich Askild letztlich begeben hatte. Alles wurde so beschwerlich: das Kochen, das Putzen, alles begann, ihr zu entgleiten. Nimm dich jetzt zusammen, Oma , forderte Stinne sie auf, doch in ihren nächtlichen Träumen folgte sie Askild immer häufiger in seine Landschaften. Sie ging durch Rapsfelder, wanderte über diesige Wiesengründe, verlief sich in nebligen Winterlandschaften, Birkenwäldern und Hochebenen, und wenn sie morgens aufwachte, hatte sie die größte Lust, die Augen wieder zu schließen. Nimm dich jetzt zusammen! Sie versuchte es. Sie machte alles, was Stinne sagte – Gymnastik im Altenzentrum zum Beispiel, doch wenn die Stunden vorbei waren, mochte sie nicht wieder nach Hause gehen. Ihre Beine fühlten sich schwer an. »Kann ich nicht einfach hierbleiben?« fragte sie, und als sie oft genug gefragt hatte, fingen die Leute an, ihr persönliches Eigentum dorthin zu bringen.
Schließlich wußte sie nicht mehr, wo sie wohnte, dennoch versprach sie Stinne, daß sie die Situation wieder unter Kontrolle bekommen würde. Davon war sie auch überzeugt, bis sie eines Tages einen Brief von Appelkopp aus Bergen bekam, der sie darüber informierte, daß der Arzt Thor an seinem vierundneunzigsten Geburtstag gestorben war. Großmutter saß lange da und starrte aus dem Fenster. Sie sah Spaziergänger, die sich über das Feld verteilten und ein Stück weiter im Birkenwald verschwanden. Und als die Krankenschwester ein wenig später hereinkam und die alte Dame im Lehnstuhl sah, der ein Brief aus der Hand gefallen war, begriff Großmutter, daß sie dagesessen und in ein großes Gemälde gestarrt hatte. Nach Thors Tod begannen ihr die Dinge ernsthaft durcheinanderzugeraten. Sie nannte Stinne Line und erzählte dem Pflegepersonal, daß ihr verstorbener Mann ein angesehener Arzt gewesen wäre, der ein Buch mit dem Titel 517 Arten, sich den Hals zu brechen, und eine Art, wieder ein Mensch zu werden geschrieben habe.
»Und er wurde wieder zu einem Menschen«, erzählte
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