Hundsköpfe - Roman
verspätet. Im nächsten Moment wußte er genau, daß er für seinen Herrn Papa Zigaretten holen sollte und das Geld weggeworfen hatte, bis die armseligen Häuser des Rhabarberviertels ihn davon überzeugten, daß er sich nicht im Bergen seiner Kindheit befand, sondern vielmehr in Amsterdam. Der kleine Splint, der jüngste Schiffsjunge, war im Nuttenviertel verschwunden und mußte unbedingt gefunden werden. Sonst würde der Skipper ungemütlich. Die wohlbekannte Irritation stieg ihm in den Kopf, mischte sich mit der Sorge um den verschwundenen Schiffsjungen und Ratlosigkeit, warum es am Abend noch so hell war.
»Splint«, hörte ein Junge ihn murmeln, »wo bist du, Splint?«
Auf der Suche nach dem kleinen Splint irrte Niels durch das Rhabarberviertel und wurde zunehmend gereizter und nervöser. Er konnte sich in den vielen Straßen nicht zurechtfinden, und eine vage Vorahnung über den Zustand, in dem er den Jungen finden würde, ließ ihn schneller gehen. Sein Herz hämmerte, der Schweiß tropfte ihm in die Augen, er nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr – so verschwommen, daß ein baufälliger Schuppen auf einem zufälligen Bauplatz plötzlich so aussah wie der Schuppen, in den Vater Niels siebzig Jahre zuvor getreten war. Die rote Farbe war abgeplatzt, draußen stand eine Gestalt Wache. Das muß der Matrose sein , dachte Vater Niels und lief auf den Schuppen zu. Natürlich wunderte er sich, daß er weder den Steuermann noch die grinsende Frau darin sah, und auch der fehlende Anblick des blanken Hinterns vom Schiffsjungen war kein Anlaß für Zweifel oder Furcht. Und doch war der kleine Splint an einen Pfahl gebunden, und vor seinem Gesicht schaukelte nicht etwa der Schwanz des Steuermannes, sondern etwas, das unverkennbar an ein auf einem Stock gespießtes Stück Hundescheiße erinnerte.
»Ich bin es!« schrie der kleine Splint, als er Vater Niels’ Verwirrtheit bemerkte. »Ich bin es, Niels, dein Enkel!«
Obwohl Splint noch seine Sachen anhatte, erkannte Vater Niels den gleichen Ausdruck von Erleichterung und tiefer Verlegenheit wieder, der einst dem verschwundenen Schiffsjungen im Gesicht gestanden hatte, und auch die Rhabarberburschen machten nun einen verunsicherten Eindruck. Schweinchenrot versuchte, den Stock wegzuwerfen, aber die Hundescheiße fiel runter und landete auf einem der Schuhe von Vater Niels. Schwarzerper war bereits auf dem Weg aus dem Schuppen, die anderen überlegten noch einen kurzen Moment, ob sie den Alten überwältigen und an den anderen Pfahl binden sollten, das ging dann allerdings vielleicht doch etwas zu weit.
»Ich bin es!« rief der kleine Splint noch immer, und plötzlich schien Vater Niels das ein oder andere klarzuwerden, und er erwiderte: »Ja, ich weiß, aber warum, zum Teufel, hat man dich an einen Pfahl gebunden?«
Darauf verschwanden sämtliche Rhabarberburschen aus dem Schuppen, einige stolperten übereinander, andere warfen noch einen raschen Blick auf die Hundescheiße auf dem Schuh des Alten und rannten dann, so schnell sie konnten, davon, während Vater Niels Segelohr befreite, ohne ein Wort zu sagen. Auf dem Weg zum Haus im Neubaugebiet überkam den Greis eine neue Erinnerung, und nun redete er mit Segelohr, wie er oft mit seinem eigenen Sohn geredet hatte: Geh nicht mit fremden Männern, laß dich nicht von ihren Geschichten zum Narren halten. Segelohr nickte und warf verstohlene Blicke auf die Hundescheiße, die noch immer am Schuh des Alten klebte.
»Ich kann das letzte Stück auch allein gehen«, sagte Segelohr, als sie im Neubaugebiet waren. »Hiervon erzählst du aber nichts, oder?« fügte er hinzu und sah seinen Großvater bittend an.
Wieder erkannte Vater Niels die Stimme des verschwundenen Schiffsjungen. »Nein«, antwortete er, »natürlich nicht.« Ein kräftiger Windstoß legte sein weißes Haar wie einen Heiligenschein um seinen Kopf, und ein beinahe seliger Ausdruck glitt über sein Gesicht, als er sich unmotiviert so tief und galant verbeugte, wie es sein alter Rücken zuließ.
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte er noch und gab seinem verblüfften Enkel die Hand.
Darauf verschwand Vater Niels im Rhabarberviertel. Niemand in der Familie hat ihn je wieder lebend gesehen, nur ein paar Rhabarberburschen hörten, wie er den kleinen Splint tröstete: »Du mußt nicht weinen, Splint, niemand wird davon etwas erfahren …« – und ein Schlachter sah, wie er sich bückte, seine Schuhe auszog und barfuß die Straße weiterging.
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