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Hundsköpfe - Roman

Hundsköpfe - Roman

Titel: Hundsköpfe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Schmieds von Grönland, der das junge Paar nur wenige Wochen vor Mariannes sechzehntem Geburtstag auseinanderbrachte. Nein, es war eine alte Geschichte, die alle Familienmitglieder allmählich leid waren: Die verdammten Ingenieure, die haben doch keine Ahnung von der Realität . Beschuldigt zu werden, nichts von der Realität zu wissen, war wahrscheinlich die größte Beleidigung, die man Askild zufügen konnte. Als älterer Mann behauptete er gern von sich selbst, daß er mehr gesehen hatte als die meisten und mehr über die Wirklichkeit wußte, als die übrige Familie je erfahren würde.
    »Aber was hast du denn in Wirklichkeit gesehen, Opa?« wollten Stinne und ich oft wie aus einem Mund wissen, worauf uns Großvater nur mürrisch ansah und antwortete: »Die Wirklichkeit ist nichts für Kinder.«
    Damit konnte er natürlich durchaus recht haben. Die Wirklichkeit ist nichts für Kinder und das Leben nichts für die Zarten. Diese späte Lebensphilosophie mußte auch als Begründung herhalten, als er Ende der siebziger Jahre seinen Enkel in den Kleiderschrank sperrte, weil ich Angst vor der Dunkelheit hatte. »Warte nur, bis du hinaus mußt in die wirkliche Welt«, sagte er hinterher. »Man hat nur Angst vor der Dunkelheit, wenn es keine wirklichen Dinge mehr gibt, vor denen man Angst hat.«
    Es war die Zeit, in der Mutter mit ihrer Ausbildung begann, Vater jeden Morgen mit seinem schwarzen Mercedes verschwand und erst zurückkehrte, wenn es längst dunkel geworden war, und Großmutter und Großvater auf uns aufpaßten, bis Stinne eines Tages erklärte, daß sie alt genug wäre, um auf uns beide aufzupassen, außerdem würde sie ein anderes Mittel gegen die Angst vor der Dunkelheit kennen, nämlich Licht.
    Die Angst vor Dunkelheit mit Licht zu kurieren, ist eine ausgezeichnete Lösung. Die Schatten werden vom Glimmen der Glühbirnen in Schach gehalten, und mit der Zeit hat man vielleicht Glück und vergißt, wonach die Schatten aussehen, oder man gewöhnt sich an das ständige Licht. Was mich betrifft, gewöhnte ich mich im Laufe der Zeit an ständig brennende Glühbirnen. Sogar in Amsterdam war ich hin und wieder versucht, die ganze Nacht ein Licht anzulassen, obwohl es eher aus alter Gewohnheit geschah. Aber damals, als die Angst vor der Dunkelheit noch intensiver war, hatte Vater eine andere Idee.
    »Laß die Dunkelheit nicht durch dich hindurchgehen«, sagte er eines Tages, indem er den Spruch seines Onkels Ejlif über die Baumgeister leicht abwandelte, und fügte hinzu: »Es ist sehr viel besser, selbst durch die Dunkelheit zu gehen.«
    Dann nahm er mich bei der Hand, und zusammen gingen wir in den nächsten Wald. Es war ein mondloser Herbstabend, die erste dünne Schicht roter Blätter knisterte unter unseren Füßen, und dieses Bild von Vater und Sohn, die im Wald wanderten, bringt selbst heute noch mein Herz zum Überlaufen. Er kurierte meine Angst vor der Dunkelheit nicht mit einem einzigen Waldspaziergang, aber während wir im Wald herumliefen, begann er, mir von seiner eigenen Wanderung in den verhexten Wäldern zu erzählen. Er sprach von einem nordlichtbeschienenen Luchs, von einem Orchester aus Baumgeistern, die plötzlich vor meinen Augen erschienen, und von zwei bezaubernden Mädchengestalten, die einst auf ihn zugetanzt kamen. Eine von ihnen traf er Jahre später in Ålborg, spionierte ihr mit einem Fernrohr hinterher, umwarb sie mit einem gestohlenen Fahrrad, wurde getrennt durchs Großvaters neue Stelle in Odense, und die andere …
    »Wer war es?« wollte ich wissen.
    Und er antwortete: »Das war deine Mutter.«
    Der Umzug nach Odense war der letzte in einer langen Reihe von Umzügen. Als Askild viele Jahre später auf der Werft von Odense gefeuert wurde, fand er Arbeit auf der Lindøwerft in der Nähe und brauchte nur ein Moped, um die zusätzliche Entfernung zwischen Arbeitsplatz und Wohnung zurückzulegen, und als er noch später auch auf der Lindøwerft entlassen wurde, hatte er zu seinem großen Erstaunen das Rentenalter erreicht. Beim Umzug nach Odense versprach Askild der Familie zum ersten Mal nicht, daß es ihnen wie Grafen und Baronen gehen würde – um seinen Mund hatte sich der bittere Zug bereits eingegraben. Als er an jenem Nachmittag besoffen von der Werft kam und feststellen mußte, daß er mit seiner kubistischen Natur wieder einmal alles zunichte gemacht hatte, hörte er auf, noch etwas Gutes von der Zukunft zu erwarten. Dennoch sollte Odense von allen Städten zu dem Ort

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