Hundsköpfe - Roman
werden, an dem Bjørk am ehesten das Gefühl hatte, wie eine Gräfin oder Baronin behandelt zu werden. Im Alter von sechsundvierzig Jahren fand sie eine Stelle als Büroangestellte in einem Sägewerk und spürte in den nächsten zwanzig Jahren jeden einzelnen Morgen, wie ein berauschendes Gefühl der Freiheit sie durchströmte, wenn der Wecker klingelte. Es war eine ganz gewöhnliche Arbeit, aber mit ihrem Sinn für Magie versah Großmutter sie schon bald mit einer Aura, die ihren Kindheitssommern im Nordland nicht wesentlich nachstand.
Im Umzugswagen – auf dem Weg von Ålborg nach Odense – saß ein verkniffener Askild, der den Blick stur auf die Straße gerichtet hatte, bis er seinen ältesten Sohn irritiert ansah und sagte: »Man muß in der wirklichen Welt lernen, sich Liebeskummer zu verkneifen.« Segelohr schickte seinem Vater einen Blick, der nichts anderes als Verachtung ausdrückte, und schwor, das ganze Leben in ein und demselben Haus wohnen zu wollen, wenn er und Marianne irgendwann einmal zusammenzogen. Bjørk hingegen sagte kein Wort, denn um die Wahrheit zu sagen, war sie entsetzt – nicht wegen der plötzlichen Kündigung oder des Gedankens, wieder von vorn anfangen zu müssen, das war sie inzwischen gewohnt, sondern wegen etwas ganz anderem, einer beunruhigenden Theatervorstellung, deren Zeugin sie am Vorabend geworden war.
Am letzten Abend in Ålborg hatte sie sich wie gewöhnlich in die Küche gesetzt, um ein waches Auge auf den Ringkampf an Mariannes Fenster zu werfen, doch zu ihrer großen Überraschung blieb das verrückte Pärchen nur eine halbe Stunde im Fenster hängen. Dann drehte sich Segelohr unvermittelt um und rannte zurück ins Haus, und das Licht in Mariannes Fenster wurde gelöscht. Vorhang! dachte Bjørk und seufzte erleichtert. Nun hat diese Geschichte ein Ende .
Daraufhin ging sie auf die Toilette und war eigentlich schon auf dem Weg ins Bett, doch dann bekam sie Lust auf ein Glas Milch und stand wieder in der dunklen Küche, als das Licht in Mariannes Fenster erneut angeschaltet wurde. Die Gardinen waren aufgezogen, das Zimmer war in Licht getaucht, und mitten in diesem Licht, das Bjørk so scharf vorkam wie das Licht von einem halben Hundert Projektoren, stand Marianne Qvist wie irgendein Flittchen und feuerte ihr gesamtes Arsenal an Zaubertricks ab – Schmollmunde, geheimnisvolle Blicke, eine besondere Art, ihr Haar zur Seite zu werfen –, und dabei zog sie sich aus, bis sie schließlich splitternackt mitten im Zimmer stand, die Schamlosigkeit ins Gesicht geschrieben , dachte Bjørk, die das Fernrohr im Zimmer ihres Sohnes gleichfalls bemerkt hatte. Und diese zwei Komponenten – eine nackte Marianne, die eine unfaßbare Vorstellung gab, und der Sohn, der nun an seinem eigenen Fensterbrett saß, das Auge an den Sucher des Teleskops geklebt – führten dazu, daß sie sich an der Milch verschluckte. Das Resultat war ein gewaltiger Hustenanfall, der sich erst wieder legte, als sich das Mädchen mit einem grünen Teddy ins Bett legte und Dinge tat, die sich für ein Mädchen in ihrem Alter einfach nicht gehörten …
Es ist etwas Unnatürliches an diesem Mädchen , dachte Bjørk im Umzugslaster auf dem Weg zu einem neuen Leben in Odense, sie ist doch noch nicht einmal sechzehn, so benimmt man sich ganz einfach nicht! Was Großmutter fürchtete, gesehen zu haben, und wo sie nach einem Vierteljahrhundert sicher war, daß sie es tatsächlich gesehen hatte, war kein beinahe sechzehnjähriges Mädchen, das ein wenig ungeschickt versuchte, sich das Leben der Erwachsenen zu eigen zu machen. Nein, Bjørk hatte Angst, einen waschechten Dämon erblickt zu haben, einen von der Sorte, die Schicksale zerstören, und der sie schon bald unruhige Blicke auf die Briefe werfen ließ, die nun jede Woche in dem neuen Haus am Stadtrand von Odense ankamen. Parfümierte Briefe, rosafarbene Umschläge, vollgezeichnet mit Herzen, auf denen nicht selten stand: Ich soll vielmals vom Zigeuner-Hans grüßen .
Glücklicherweise wußte Bjørk nicht, daß Zigeuner-Hans der Name des grünen Teddys war. Sie wußte auch nicht, daß das verrückte Paar einen Plan ausgeheckt hatte – wir hauen zusammen ab, sobald der erste von uns achtzehn wird. Das hieß mit anderen Worten, sobald Segelohr achtzehn wurde, und das wiederum hieß, in weniger als einem Jahr.
Gut, daß wir dort weggekommen sind , dachte Bjørk statt dessen, und in Ålborg kam Karen allmählich zu einer ähnlichen Einschätzung, denn
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