Hundstage
von vorne durchgehen, den Text unangreifbar machen, Wort für Wort, wie ein Uhrmacher, der sich jedes Rädchen unter einer Lupe anguckt … Es wäre doch gelacht, wenn er die Kritik diesmal nicht auf seine Seite bekäme. Was für ein Glück, daß er schon Literaturpreise erhalten hatte! «Schmonzes!» Wenn dieses Wort fallen würde, dann könnte er mit diesen Preisen auftrumpfen wie mit einem Ausweis. Im Gegensatz zu Holderbusch hatte er es schriftlich, daß seine «Produktion» was taugte.
Inzwischen verfiel das Gespräch. Der Senatsbeamte erzählte, daß seine Tochter in die Orientierungsstufe gekommen sei, wo sie dauernd Tests schreiben muß, und Neelsen berichtete von seinen neuen Gummistrümpfen, daß ihm die wegen seiner Krampfadern verordnet worden sind. Achilles sprach von «Tannengrün» und «Lohnhäuser» und machte verschiedene Dirigenten nach, das peinliche Kopfgeschüttel Furtwänglers, Karajan mit seinen Gichthänden, und Gulda am Klavier – Darbietungen, bei denen der Kellner ruhig weiterservierte. Die Runde aber lag quasi flach vor Lachen. Auch Sowtschick lachte über Achilles’ Darbietungen, am besten so tun, als ob man nichts gemerkt hat, dachte er. Gern hätte er eine chinesische No-Oper nachgemacht, damit hatte er anderswo schon Erfolge errungen, aber er traute sich nicht. Er lachte mit den andern so herzlich er konnte. Als der Senatsbeamte jedoch die letzte «Vorsicht-Kamera»-Sendung referieren wollte, versteinerte er. Diesem Menschen brauchte er nicht entgegenzukommen, da von dem nichts zu erwarten war.
Gegen Mitternacht erhob sich Sowtschick. Er verabschiedete sich in abgestufter Herzlichkeit, Frau Klincke nahm er gar ein wenig in den Arm. Der alte Neelsen, der das Taxigeld sparen wollte, brach ebenfalls auf. Sowtschick wußte schon, daß er seinetwegen einen Umweg in die Außenbezirke machen mußte. Und so war es denn auch. Er sei zwar noch gut zu Fuß unter der Nase, sagte Neelsen, aber bis nach Volksdorf sei es doch ein bißchen weit …
«Und Sie schreiben an einem Seefahrtsroman?» fragte der Alte, der die Arme versehentlich unter den Sicherheitsgurt geklemmt hatte. Er erinnere sich noch gut, Seefahrt! Wie er sich als Heizer auf einem Seelenverkäufer die Überfahrt nach Amerika verdient hatte. «Haben Sie mein Fahrradbuch mal gelesen?» Die Sache mit dem Seelenverkäufer werde dort im siebten Kapitel ab Seite zweihundertvier geschildert. Als junger Mann müsse man sich den Wind um die Nase wehen lassen, er jedenfalls sei kein Kind von Traurigkeit gewesen. «Das können Sie mir glauben.»
Als der «Autor von eigenen Gnaden» in einer Schrebergartengegend endlich ausstieg, einen faden Geruch nach unausgelüftetem Anzug zurücklassend, murmelte Sowtschick: «Fahr zur Hölle!» Den Namen dieses Mannes würde an der Fußgängerampel niemand mit den Lippen formen.
Sowtschick fuhr laut singend nach Hause. Zur nächsten Sitzung der Brockes-Jury würde er ein Buch von Holderbusch vorschlagen, das nahm er sich vor. Und dem schon vorher signalisieren: «Sie bekommen den Preis, dafür werde ich sorgen.» Und wenn der dann durchfällt mit Pauken und Trompeten, so ganz einfältig: «Schade» sagen. «Das tut mir aber leid …» – Das nahm sich Sowtschick fest vor, aber er wußte schon jetzt, daß er das dann doch nicht tun würde. Für Rache-Dinge war er nicht gebaut.
Auf der Autobahn war nichts mehr los. Er beschleunigte und genoß es, mit seinen 136 PS verlorene Zeit wiedereinzuholen, wenn es sich auch nur um Minuten handelte.
Rausche, Fluß, das Tal entlang
ohne Rast und Ruh,
rausche, flüstere meinem Sang
Melodien zu …
Ob er auch von SCHARNOW sei, war er gefragt worden. Nein, er war keinesfalls von SCHARNOW, auch er war ein Autor von eigenen Gnaden, weiß Gott, sechzig Jahre alt, Hebbel-Preisträger, Hausbesitzer … Und imstande, die «Jagdsonate» von Mozart zu spielen. Welchem Schriftsteller war es gegeben, von zwei blonden Mädchen erwartet zu werden, denen jederzeit das Ohrläppchen gerieben werden durfte?
Er trat das Gaspedal «durch», der Tachometer-Zeiger pendelte sich bei 18o ein. Wenn nun ein «Falschrichtungsfahrer», also ein Geisterfahrer, ihm begegnete? Mit ausgeschaltetem Scheinwerfer? Albert Camus, Ödön von Horváth, James Dean und die Duncan – er würde in den Olymp verunglückter Künstler eingehen: Ein interessanter Aspekt für den Nekrolog: «…Was er wohl noch alles geschrieben hätte …» würde es heißen, und man würde ihn vermissen.
Zu
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