Hundstage
die «Winterreise», 15,8 Druckseiten, der Anfang war gemacht. Die Bretter waren ausgelegt über den schwankenden Grund. «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.» Sowtschick stellte sich das Chaos des ungeordneten Stoffes wie einen Sumpf vor, in dem es gluckste. Das andere Ufer würde er erreichen müssen, sonst würde es ihn hinabziehen in den schleimigen Morast.
Als der letzte Schlag der Uhr verhallte, schrieb Sowtschick bereits Zeile um Zeile. Und was er schrieb an diesem heißen Tag, handelte von Schneeflocken, die vom Himmel segelten, und von einer Hundekälte: Gottfried Fingerling, der alternde Schriftsteller, stapft in einer von Kurgästen leergefegten kleinen Stadt sinnend durch den Schnee. Die Rodelbahn, der Skihang – alles menschenleer. An sich hätte es hier zu dieser Jahreszeit von Menschen wimmeln müssen – «Ski und Rodeln gut» –, aber Sowtschick sah keine Menschen, er sah nur Gottfried Fingerling, den alternden Schriftsteller, und zwar durch den Schnee «stapfen»: Das Leben hat seine Last. Schneebedeckte Tannen, eingeplusterte Gärten, dünenartige Schneewehen mit scharfgeschnittenem Kamm, und dazwischen als graudunkler Fleck der einsame Gottfried Fingerling.
Der Dichter, den Sowtschick vor Augen hatte, trug eine schwarze Pelerine, und die Landschaft war eine Postkartenidylle, auf der Winter zu besichtigen war, wie es Winter nicht gibt. Sowtschick amüsierte sich darüber, daß es ausgerechnet eine Kitschpostkarte war, an der er sich orientierte, und er versuchte, wenn dem nun schon so sei, den Eindruck des Geschönten in seinem Text zu reproduzieren. Ihm fiel es ein, den Leser mit der Schilderung einer Märchenwelt einzulullen. Die Kritiker sollten das anstreichen und mit einem Fragezeichen versehen. Sie sollten glauben, daß Sowtschick die Kontrolle über sich verloren hat. «Dieser Mensch ist ja betulich! » sollten sie ausrufen und ihm damit auf den Leim gehen. Oh! Er wollte seine Bilder schon noch brechen.
Einen speziellen Zettel hatte er auf seinem Schreibtisch liegen mit Katastrophenthemen, die vorkommen sollten in dem Roman: die Fragwürdigkeit der Atomkraft, der sogenannte Rüstungswahnsinn, Aids und Smog und das Abbrennen des südamerikanischen Regenwaldes. Das alles würde er einarbeiten in sein «Gespinst», doch das hatte Zeit. Fürs erste galt es, den winterlichen Kurort recht putzig darzustellen. Das Brüchige der Erscheinungen müßte dann später wie ein Knüppelaus-dem-Sack herausfahren, die Idylle hinwegfegen und voreilige Kritiker beschämen.
Im übrigen markierten drei Leuchtzeichen den Weg seines Schreibens, auf die mußte er achtgeben. Auf der einen Seite ragte «The Magic Mountain» auf. Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte Sowtschick nicht zu nahe kommen, das hatte er kapiert. Jahre war es her, daß er das Buch gelesen hatte, und immer noch war da ein Bild von frisch gefallenem Schnee, das Sowtschick niemals übertreffen konnte.
Das zweite Leuchtzeichen war, und Sowtschick lachte, wenn er daran dachte, der Roman «Drei Männer im Schnee», lustig zu denken, daß auch dieses Buch in seiner Orientierung eine Rolle spielte, aber es war so, denn Sowtschick gedachte, nicht nur etwas von der Bedeutsamkeit jenes Zentralmassivs in sein Buch einzubringen, das Pro und Contra seiner Weitsicht, sondern auch die aufgekratzte Stimmung des Drei-Männer-Buches. Das hatte er Marianne wieder und wieder erklärt, damit sie es eines Tages dem Biographen berichten könnte.
Manche Trän’ aus meinen Augen
Ist gefallen in den Schnee;
Seine kalten Flocken saugen
Durstig ein das heiße Weh.
Was die Atmosphäre anging, da hatte er sich Schubert verordnet, und zwar die «Winterreise» – sie lieh seinem Roman den Titel –, und das war das dritte Leuchtzeichen. Leider waren die Schallplatten, die von einem Sonderangebot stammten, ein Fehlkauf gewesen. Der Solist überinterpretierte den Text kurios-unerträglich, knödelig bis dorthinaus.
Alexander Sowtschick saß an seinem Schreibtisch und schrieb. Mit seinem Bleistift wirkte er an «seines Liedes Riesenteppich» zwischen den drei Leuchtzeichen dahinzirkelnd sacht und geschmackvoll fort. Um es musikalisch auszudrücken: Melodie, Akkord und Konstruktion seines Textes brachte er in Einklang. Er dachte außerdem noch an den Verleger, der recht viele Exemplare dieses Buches verkaufen sollte, und an die Leser, die sein Buch eines Tages in Händen halten würden, und er freute sich für sie: Das wird ihnen Spaß machen, dachte
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