Hundstage
aufscheuchten. Neben dem Dorfteich, in den die Betrunkenen gewöhnlich leere Flaschen hineinschmissen, stand die aus Feldsteinen erbaute Kirche mit dem kurzen Turm, in dem die Stundenglocke, von scharrenden Geräuschen begleitet, jetzt zweimal anschlug. Fremden wurde gern das alte Gestühl gezeigt, das man bei der großen Renovierung schon entfernt hatte. Im letzten Augenblick war es einem Bauern entrissen worden, der gerade die Kreissäge anstellte. Auch die gräfliche Kapelle mit den Reliefs der sieben Märtyrer war sehenswert: verbrannt, gerädert und gepfählt. Vom Grafengeschlecht, dem die ganze Gegend mal gehört hatte, war nichts mehr übrig. Im Bauernkrieg hatten sie zweiunddreißig Aufständische köpfen lassen – nun stand noch ein verfallener Turm in der Flur und eine Scheune, «Fron-Hus» genannt, um deren Erhaltung schon seit Jahren erbittert gestritten wurde: Abbrennen würde sie eines Tages, darauf konnte man warten.
In dieser Kirche amtierte Pastor Sehgras, der als moderner Theologe gern im Rollkragenpullover daherkam, gegen die Bundeswehr agierte und sich «geophantastischem Wahnsinn» ergab, wie Sowtschick es ausdrückte, also Dritte-Welt-Sammlungen abhielt, der Kirchenlieder auf Blechfässern trommeln und halbwüchsige Mädchen in abgeschabten Jeans das Evangelium lesen ließ. Das hatte Sowtschick den Rest gegeben, er stellte seine Kirchgänge ein. (Die Nachbargemeinde war übrigens noch schlechter dran, der hatte man eine Pastorin verpaßt.) Pastor Sehgras bedauerte es, daß Sowtschick nie den Gottesdienst besuchte. Gern hätte er den Dichter in der vordersten Reihe sitzen und seinen Worten lauschen sehen. Um so mehr, weil er ihm ja auch lauschte, also seine Bücher las. Besonders das erste hatte es ihm angetan, das von der Kritik noch als «unverschämt gut» bezeichnet worden war: «Kaum einen Finger breit». Der «Biß» in diesem Buch sei rasant gewesen, pflegte er seinen Amtsbrüdern beim Theologentee immer wieder zu sagen. Jetzt wünschte er sich bei Sowtschick ein bißchen mehr Pfeffer, Engagement im Hinblick auf die Lebensfragen der Zeit, die Erhaltung des «Fron-Hus» beispielsweise, das sich in Eigeninitiative und mit Landeszuschüssen in ein Jugendzentrum verwandeln ließe, in dem sich dann vielleicht auch Jugend um Sowtschick scharen würde.
Zu gelegentlichen Kaffeebesuchen kam es immerhin, mal hier, mal dort, zwei-, dreimal im Jahr, aber auch nur deshalb, weil Pastor Sehgras eine nette Frau hatte, mit der Marianne verkehrte. Sowtschick kabbelte sich gern mit ihr.
Im Wirtshaus, das neben der Kirche lag, weiß unter riesigem Walmdach, mit Linde davor, Bank und einer verrosteten Tanksäule, wurde Skat gespielt, das konnte man hören. Journalisten, die sich wegen Sowtschick in dieses Dorf verirrten, beschafften sich hier Hintergrundmaterial für ihre Reportagen. Denen wurden in der «Linde» die wunderlichsten Informationen aufgetischt: «Eene Milljon hätt hei all full – nu geiht dat an de tweite ran!»
Neben dem Wirtshaus, das früher einmal ein beliebtes Ausflugslokal gewesen war (bis es der Menschheit einfiel, nach Mallorca zu fliegen), stand eine Hundehütte. Der Schäferhund, der hier das Sagen hatte, war nicht so ganz bei Groschen. Schielend kam er angetrottet, machte: «Hau-hau!» und sah Sowtschick argwöhnisch an. Dessen Hunde begrüßten ihn nur flüchtig, die hatten keine Lust, sich mit ihrem Kollegen, den vermutlich auch sie für nicht ganz bei Groschen hielten, auf einen Streit einzulassen.
Es war nun schon recht dunkel, Sowtschick mußte auf den Weg achten. Die gewaltigen Eichen an der Straße, und in den Stauungen klirrte Vieh an seinen Ketten.
Daß Ohltrop sich so gar nicht gewehrt hatte, beschäftigte Sowtschick. Ließ sich mit einem Obstmesser massakrieren? Sechzehn Stiche und anschließend die Gurgel durchschneiden? Das Schlafzimmer, der Nachtschrank und die Brille auf dem Nachtschrank, und auf dem Bett ausgestreckt der entseelte Körper mit eingetrocknetem Blut, dessen Fleisch sich bereits verfestigt hat … Sowtschick sah alles vor sich. Aber es war nicht Ohltrop, den er da liegen sah, es war ein bärtiger Mann mit Wundmalen an Händen und Füßen, ein Mann, den er nicht kannte.
Nun kam Sowtschick an der alten Schule vorbei. Sie war so wie das Wirtshaus gebaut, mit intensiv genutztem Garten und einer Laube, in der ein kaputtes Barometer hing. Wenn er hier bei Tage vorüberging, was selten geschah, kam prompt der pensionierte Schulmeister
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