Hundstage
herausgesprungen. Jahrzehntelang hatte er die Jugend des Dorfes mit dem Stock erzogen, weshalb er den Namen «Schinder» trug. Jetzt befaßte er sich mit Volkstum, hortete also Dreschflegel. Irgend etwas von Zusammenhalten spukte durch sein Gehirn, er riß gern die Gartenpforte auf und redete auf Sowtschick ein.
«Sie und ich, wir müssen doch zusammenhalten …»
Einmal war Sowtschick von diesem aufgeregten Mann sogar in die Wohnung gezogen worden, kleine dunkle Zimmer, nach Essig riechend. Die kranke Frau war über den Korridor geschlichen, und nebenan brummelnde Geräusche: Hier wurde der hirngeschädigte Sohn verborgen gehalten, ein frankensteinartiger Mensch, der, obwohl dreißigjährig, dreimal pro Tag unter sich machte, wie der Briefträger berichtete. Kinder rannten schreiend davon, wenn er sich auf der Straße blicken ließ, und der Vater mußte öfter mal den Stock gebrauchen.
Der Schulmeister hatte Sowtschick übersüßen Sanddornsaft zu trinken gegeben, und dann hatte er ein selbstverfaßtes Buch herausgerückt und ihm geschenkt. Eine Broschüre mit heimatlichen Sagen: «De Düwel in de Föör un annere Vertellsel», in dem auch von dem «Fron-Hus» erzählt wurde und von den zweiunddreißig Bauern, die man geköpft hatte, obwohl ihnen das Leben zugesichert worden war.
Sowtschick hatte die Schrift bereits mehrmals weggeworfen, doch Frau Schmidt, die Reinemachefrau, klaubte sie aus dem Mülleimer, strich sie glatt und schob sie ihm immer wieder unter.
Gefahrlos passierte Sowtschick in dieser Nacht das Schulhaus.
Out! Out! Out!
Auch der Schulmeister gab sich zu dieser Stunde dem Fernsehen hin, das war zu beobachten, wie gut, daß ihm seine Sinne nicht den vorübergehenden Dichterkollegen meldeten.
Sowtschick pfiff die Hunde, die sich bei den ehemaligen Schulklos zu schaffen machten, sie kamen sogleich gelaufen und sahen ihn dankbar an, wie sie es eigentlich immer taten, auch wenn sie an ganz etwas anderes dachten. Neben der Schule lag der Fußballplatz. Ein verrammelter Kiosk mit verwaschenen, zerfetzten Plakaten.
Auf der anderen Seite des Fußballfeldes stand das Spritzenhaus, in dem der schwarze Totenwagen untergestellt war. Auf diesem mit silbernen Verschnörkelungen verzierten Wagen eines Tages durchs Dorf gefahren zu werden – bim-bim! bim-bim! –, dann womöglich in der eiskalten Friedhofskapelle liegen zu müssen, Tage und Nächte: Das schreckte Sowtschick.
Out! Out und vorbei …
Er erwartete, daß man ihn in seinem eigenen Haus aufbahrte, und zwar im Studio, mit Kerzenleuchtern links und rechts. Wie jenen bärtigen Toten, den ihm seine Phantasie statt Ohltrop vorstellte, sah er sich dort liegen, und junge Mädchen standen links und rechts und blickten auf ihn herab.
«… Am Tage zuvor war der Dichter noch vergnügt gewesen …», so würde in der Zeitung stehen. Ob der Schützenverein, dem er ehrenhalber hatte beitreten müssen, eine Abordnung zur Beerdigung schicken würde? Mit Salveschießen über das Grab und Fahnesenken? Hessenberg, der Verleger, käme vermutlich zu Wort, erst Pastor Sehgras, dann Hessenberg, und vielleicht noch einer von der Regierung … Möglicherweise würden ja auch Autoren seinen Sarg tragen, von Dornhagen und Niels Pötting auf der linken Seite, Hinze aus Mölln und Kargus aus St. Peter auf der rechten, vier oder sechs Autoren, von Hessenberg alarmiert, wie bei Langhardi im letzten Herbst, dem Ludwig-Tieck-Preisträger und unerschrockenen Ankläger öffentlicher Mißstände.
Im Falle eines gewaltsamen Todes wäre dann ja auch mit Presse zu rechnen: Fotografen, über benachbarte Gräber stolpernd, und Kamerateams, die das Beileid-Händeschütteln wiederholen lassen, weil sie nicht richtig zu Schuß gekommen sind.
Sowtschick ging den Friedhof entlang mit seinen Grabsteinen, Lebensbäumen und ernsten Wacholderbüschen.
Nun bog er in den Feldweg ein, der von Westen aus über einen Hügel hinweg auf sein Haus zuführte. «De Düwel in de Föör». Zwei Karnickel schreckten auf und sprangen in ein Roggenfeld, von den Hunden eine Weile wild-raschelnd verfolgt. Am Himmel, dessen Röte sich auf einen tiefdunklen Streifen über dem Horizont reduziert hatte, waren die Sterne aufgezogen, eine blinkende Pracht, die Venus konnte er ausmachen und den Polarstern, den hatte ihm sein Kamerad Lehmann mal gezeigt, in der Gefangenschaft, das war lange her.
Vor ihm, im heller werdenden Mondlicht, lag sein inselartiges Anwesen, runde Baumkronen um das große
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