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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Und in der Stadt sah er ihn in Schaufenster gucken: eine Bäckerei, appetitlich riechend, ein Eisenwarengeschäft mit Beilen, Sägen und Messern jeder Größe und eine blutige Fleischerei: Die Schlachthalle sah er vor sich, mit Schlachtergesellen, die ein schreiendes Schwein abstechen. Nicht schlecht, dachte er, als Kontrast zur winterlichen Postkartenidylle? Rotes Blut auf weißen Schnee gespritzt? Vielleicht könnte das Schwein sich losreißen und, mit heraushängendem Eingeweide, eine Blutspur hinterlassend, über Fingerlings Weg laufen? Fabelhaft. Aber doch auch wieder nicht. Ein bißchen derb. Und vermutlich kapiert’s keiner, außerdem: Döblin, bei dem gab’s das ja alles schon.

    Sowtschick strich die «Schweinearie» als zu grob wieder aus und fügte der kleinstädtischen Ladenreihe ein Antiquitätengeschäft hinzu. In einem Kurort machen doch auch vermögende Leute Station, und die wollen schließlich was haben von ihrem Geld. Deutlich sah er den kleinen Laden vor sich. Es war keines dieser schnieken Geschäfte, über dessen Tür auf schwarz-gläsernem Grund «Antiques» steht, mit polierten Barockmöbeln, ohne Preisschild dran (die dann am Ende «siebzehn» kosteten), nein, Sowtschick sah es deutlich, daß hier nur Krimskrams ausgebreitet war: Gläser jeder Art, Mörser in verschiedenen Größen, ein Schaukelpferd ohne Schwanz, allerlei Porzellan und eine ramponierte Ritterburg. Die Burg kam Sowtschick bekannt vor: Es war die Burg, die er selbst besaß: mit Türmchen und Zugbrücke, von innen zu beleuchten. Für fünfzig Mark hatte er sie seinerzeit gekauft. In dem Geschäft, an das Sowtschick jetzt dachte, kostete die Burg «zweifünf».

    Sowtschick brauchte nicht darauf zu warten, daß ihm der Sinn aufging, der mit der Erwähnung einer Ritterburg in seinem Text verbunden war. Es konnte doch kein Zufall sein, daß Gottfried Fingerling ausgerechnet eine Burg ins Auge fällt … Die Verschlossenheit seiner Seele war damit gemeint, die Tore verschlossen, die Zugbrücke aufgezogen. Eine von unsichtbaren Dornenhecken umgebene Burg, in deren Spinnkammer kein Dornröschen schläft, sondern Fingerlings verletzte Seele.

    «That’s the point», sagte Sowtschick laut, und er besserte den Text zur Deutlichkeit hin aus. Er wollte den Sinn des Bildes bis «knapp unter die Decke der Erscheinungen» heben, das war sein Ziel, und das schaffte er mühelos: Gottfried Fingerlings vereistes Herz, meinte Sowtschick, müsse von der wärmenden Liebe einer Frau aufzutauen sein. Und da war sie auch schon: Hinter der von Eisblumen überfächerten Schaufensterscheibe des Antiquitätengeschäfts erschien sie, blond, mit roten Pulswärmern. Mittels einer Nürnberger Schere stellte sie Bleisoldaten auf den Hof der Burg, und Gottfried Fingerling sah ihr dabei zu.

    Sowtschick schrieb das alles ziemlich flott nieder, um sich herum und in sich drin tickende Motive, deren Zeigerstellung bei jedem Wort beachtet wurden. Keinem seiner Begrenzungsleuchtzeichen kam er zu nahe, weder dem «Magic Mountain» noch den «Drei Männern im Schnee»; Melodie, Akkord und Konstruktion stimmten, und der Leser, der dies alles eines Tages nachvollziehen sollte, würde das Buch nicht zuklappen, sondern vermutlich weiterlesen.

    Seine Katastrophenliste schob er einstweilen beiseite, Asylantenelend, Ökofragen und Rüstungswahnsinn – das hatte Zeit. Das würde er schon noch einbauen können, irgendwie. Die Ritterburg könnte vielleicht das Stichwort abgeben für ein Gespräch zwischen Fingerling und der Verkäuferin: «Overkill», was für ein merkwürdiges Wort… An all das dachte Sowtschick, während er schrieb. Darüber hinaus hatte er noch den Eindruck, er werde beim Schreiben gefilmt. Schließlich rief er: «Schluß»!, stieß die Blätter auf und numerierte sie. «Herrlich! Wieder vier Seiten!» Ein großes Stück Chaos hatte er gebändigt, es bestand keine Gefahr, daß er in den Sumpf des Ungeordneten, Amorphen hinabgezogen würde. Er stand wie ein lebendiger Wegweiser, wie ein belletristischer Verkehrsschutzmann auf festem Granit: In dieser Richtung müßt ihr fahren, rief er den Menschen zu, und die nahmen ihre Habseligkeiten auf und folgten ihm.

    Zur Abrundung seines Glücks gelang es ihm vom Klo aus, die Pferdemädchen auszumachen, die Blonde mit fliegendem Haar auf dem Pony, die andere auf dem Fahrrad hinterdrein. Als sie aus seinem Blickwinkel verschwanden, sprang Sowtschick in die Schlafkammer seiner Frau. Von hier aus sah er mit dem

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