Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
um, konnte ihn aber nicht entdecken, deshalb nahm sie allein die Verfolgung auf.
Die Deckung der vielen Polizeifahrzeuge nutzend, holte sie ihn schnell ein. Sie blieb knapp hinter ihm, als er die Absperrung erreichte. Jetzt klappte er irgendeinen Ausweis auf und hielt ihn für den Bruchteil einer Sekunde zwei Polizisten hin, sagte etwas, und die beiden ließen ihn durch.
«Halt!», schrie Laura. «Haltet den Mann fest!»
Er rannte. Und er war in Topform. Die beiden Kollegen hatten keine Chance. Laura auch nicht.
«Lasst ihr immer alle durch, die euch irgendwas unter die Nase halten?», keuchte sie, als sie nach kurzer Zeit die Verfolgung aufgaben.
«Der hatte einen Polizeiausweis, das hab ich genau gesehen! Oberkommissar, hat er gesagt! War er keiner?»
«Nein, das war keiner! Das war der Anführer der Neonazis. Gratuliere!»
«Fahndung?» Die beiden schauten auf ihre Schuhe.
«Nein, den kriegen wir auch so.»
Ralf war den ganzen Tag gegangen. Gehen war sein Beruhigungsmittel, wenn er sich erschreckt hatte. Er konnte dann nicht rumsitzen und abwarten, bis es ihm besserging. Er musste gehen, einfach immer weiter, in der Stadt herum und am Fluss entlang. Manchmal redete er auch vor sich hin, aber er wusste, dass andere Leute ihn dann komisch ansahen, deshalb versuchte er, nicht zu reden, redete in seinem Kopf, dann konnte nur er selbst sich hören. Er wusste nicht genau, was er sagte in seinem Kopf. Vielleicht so was wie magische Beschwörungsformeln. «Abrakadabra» tauchte manchmal auf und verwandelte sich dann in «Makabrakamadra» oder «Kalabradimagra». Auch das beruhigte ihn.
Ralf wanderte durch die Innenstadt, die Fußgängerzone entlang bis zum Karlsplatz, dann wieder zurück und durch die Theatinerstraße bis zum Odeonsplatz. Zweimal lief er die Ludwigstraße auf und ab, bog dann in den Hofgarten ein und umrundete ihn dreimal. Seine Klamotten waren inzwischen wieder trocken, nur sein Schweiß hatte sie wieder angefeuchtet. Er aß nicht, trank nur hin und wieder einen Schluck aus einer Plastikflasche, die er an einem Brunnen gefüllt hatte. Als es Nacht wurde, ging er die Prinzregentenstraße entlang und schaute zum Friedensengel hinauf, der golden in der Dunkelheit leuchtete. Noch hatte er nicht darüber nachgedacht, wo er schlafen würde, aber das war auch nicht wichtig, denn noch konnte er nicht aufhören zu gehen.
Er wäre beinahe gestorben. Ralf ging schneller. Voll Wasser gelaufen, im Wasser erstickt. Ralf drehte sich um sich selbst. Nie würde er vergessen, wie all das Wasser aus ihm herausgelaufen war. Weiter. Vielleicht sollte er sich nochmal bei den Punkern bedanken. Vielleicht.
Ralf erreichte die Isar und bog Richtung Ludwigsbrücke ab. Vielleicht waren sie noch da, die Punker. Doch je näher er an die Brücke herankam, desto lauter wurde es. Überall blinkten Blaulichter, und Ralf hielt sich die Ohren zu, weil die Polizeisirenen ihm wehtaten. Er konnte nicht weitergehen. Die Angst wurde wieder stark, so heftig, als wäre er nicht den ganzen Tag gelaufen, um sie zu besiegen. Aber er hatte eine Idee. Eine ganz neue. Vielleicht würden die Blaulichter die Kerle an der Isar mitnehmen, und sie wären für immer weg. Eingesperrt und vertrocknet, und er könnte ihre Zähne zwischen den Isarsteinen sammeln. Ralf starrte noch ein paar Minuten zu den Blaulichtern hinüber, dann kehrte er um und lief nach Norden.
Kommissar Baumann steuerte Lauras Dienstwagen nach Norden, den Fluss entlang. Laura saß neben ihm und genoss den Fahrtwind, der durch das offene Seitenfenster hereinströmte.
«Ungererstraße», sagte sie.
«Bist du sicher, dass er kommt?»
«Nein.»
Baumann lachte. Laura betrachtete ihn von der Seite und freute sich, dass der Ton zwischen ihnen die alte Leichtigkeit wiedergefunden hatte.
«Was machen wir, wenn er nicht kommt?»
«Wir fahren ins Präsidium und verhören das Fußvolk der ‹Schwabinger Stürmer›.»
«Ich hoffe, er kommt.»
«Ich auch.»
Diesmal lachten sie beide.
«Was machen wir, wenn er kommt?»
«Ich weiß es nicht.»
«Hör mal, Laura. Was willst du eigentlich von ihm?»
«Ich will wissen, warum er so eine gequirlte Scheiße verkündet und warum seine SS-Stürmer hilflose Penner erschlagen.»
Baumann fuhr langsamer.
«Bist du sicher, dass du das heute Nacht schaffst? Ich meine konditionsmäßig.»
«Nein.»
«Sollen wir’s lassen?»
«Nein.»
«Sicher? Wir sind beide nicht in Topform.»
«Nein.»
«Also was?»
«Wir warten auf ihn.
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