Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
kann solche Leute nicht ausstehen, Laura. Und schon gar nicht morgens um vier.»
«Du kannst Leute nicht ausstehen, die andere umbringen, Neonazis nicht und ältere Leichen nicht. Warum lässt du dich nicht endlich umschulen, Kommissar Baumann?»
Als sie sein leises Lachen von der anderen Seite des Wagens hörte, ging es ihr ein bisschen besser. Es ist der Humor, der uns rettet, dachte sie. Immer wieder der Humor und der Sinn für die Absurditäten des Lebens. Trotzdem war ihr übel, und das lag sicher nicht an irgendwelchen Bakterien.
Als Laura am nächsten Vormittag ihre Wohnungstür öffnete, hatte sie das dringende Bedürfnis, auf allen vieren zu kriechen. Sie hatte eindeutig ihre Grenze erreicht. Die Verhöre der letzten endlosen Stunden erschienen ihr wie ein verwirrender Traum. Die meisten der Festgenommenen waren inzwischen wieder freigelassen worden. Nur zwei Deutschrussen und zwei junge Männer aus Niederbayern hatten sie auf Lauras Anweisung hin in Gewahrsam behalten, der Haftrichter hatte unter Vorbehalt zugestimmt. Auf diese vier trafen alle Hinweise zu, die Michael Geuther gegeben hatte. Ein kleiner Erfolg, immerhin, doch sie war sich nicht sicher, hatte das Gefühl, in eine Falle zu tappen und nicht zu verstehen, was eigentlich vor sich ging.
Sie hatte Durst und große Lust auf kräftigen schwarzen Tee. Sie brühte sich eine große Kanne voll auf, trank gierig, verbrannte sich den Mund und mischte kaltes Wasser und braunen Zucker dazu.
Die Sonne stand schon wieder viel zu hoch und heizte die Stadt auf. Seit Wochen lag Lauras Wohnung im Dämmerlicht, weil alle Vorhänge zugezogen waren, alle Rollos herabgelassen.
«Ich verstehe es nicht», murmelte sie. «Ich habe keine Ahnung, warum sie es tun.»
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, streckte sich lang aus und schloss die Augen. Kein Gedanke an Schlaf. Ihr Bauch hatte sich beruhigt, aber ihr Kopf arbeitete. Sie stand wieder auf und suchte in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch nach einem Buch über Neonazi-Aussteiger, das sie vor einiger Zeit gekauft hatte. Nur halb bewusst knipste sie die Schreibtischlampe an, setzte sich und begann eine Stelle zu lesen, die sie markiert hatte:
Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalitätszusammenhänge – wenn … dann … – lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und (Gewalt-)Täter nicht ableiten. Auffallend gehäuft (aber auch hier lassen sich Gegenbeispiele nennen) treten lediglich folgende Faktoren in Erscheinung:
Das Interesse am Thema Nationalsozialismus erwacht häufig früh und als Reaktion auf für Kinder scheinbar unerklärliche, irrationale Verhaltensweisen Erwachsener: (Groß-)Eltern verschweigen ihre Jugendzeit, weichen auf entsprechende Fragen aus, positive Erinnerungen werden als Geheimnis offenbart («aber erzähl es nicht in der Schule/bei den Eltern weiter»), die NS-Zeit wird zum spannenden Mythos.
NS-Symbole und -Attitüden sind als Mittel der
Provokation und des Protestes wirksamer als alles andere. Bei manchen, einmal in die rechtsradikale Ecke gedrängt, verfestigen sich Attitüden zur Haltung, aus Spaß wird Ernst.
Erwachsene nehmen Jugendliche nur selten ernst. Sie interpretieren häufig «rechte» Sprüche, Symbole, Verhaltensweisen auch dann noch als «Spaß», wenn es dem Jugendlichen längst ernst damit ist. Vor allem Eltern neigen dazu, sämtliche Anzeichen für eine rechtsextreme Entwicklung ihres Nachwuchses zu «übersehen», und seien sie noch so eindeutig: Poster von Nazi-Größen und Rechtsrockbands oder eindeutige Parolen bevölkern die Wände, aus den Boxen der Musikanlage dröhnen nur noch Lieder rechtsextremer Musiker, das «Bildungsinteresse» reduziert sich immer mehr auf die «deutsche Geschichte» vor 1945.
Sie übersprang ein paar Zeilen.
Ein diffuser «Mein Kind ist gut-Glauben» bei gleichzeitig erschreckender Gleichgültigkeit gegenüber der Realität der kindlichen Lebenswelt führt dazu, dass Eltern ihre Möglichkeiten und Fürsorgepflichten nicht wahrnehmen und so das Abdriften ihrer Kinder in destruktive Szenen und Kulte durch Weggucken und Passivität maßgeblich fördern …
Fast alle Neonazis und rechtsextremen Gewalttäter kommen aus Elternhäusern, die selbst neonazistische Organisationen und Aktivitäten ablehnen, nicht jedoch zentrale Ideologeme des Rechtsextremismus. Vor allem fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen werden von vielen gar
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