Hunger der Nacht (Dark Hunger)
exzellente Nachtsicht, aber die würde ihr
keine große Hilfe sein bei Raubtieren, die sich bei Nacht auf die Jagd begaben.
Die nächsten Meilen brachte sie
hinter sich, indem sie abwechselnd rannte oder ging. Sie versuchte, auf den
stetigen Rhythmus des Regens zu lauschen, doch in ihren Ohren klang er wie ein
Herzschlag. Juliette versuchte, Riordans Geruch aus ihrem Bewusstsein zu
verdrängen, aber er hing an ihrem Körper und war nicht zu ignorieren. Tränen
rannen ihr unaufhörlich über das Gesicht und ließen ihre Sicht verschwimmen.
Ihr Kummer war wie ein bleiernes Gewicht, das ihre Schritte verlangsamte und
ihr den Atem raubte.
Jeder Schritt war ein Kampf, sich
weiterzubewegen, nicht umzukehren und zurückzulaufen, um Riordan zu suchen.
Noch schlimmer war, dass ihr Geist schier unentwegt versuchte, Verbindung zu
Riordans aufzunehmen. Gegen sich selbst anzukämpfen war aufreibender, als es
mit dem Dschungel aufzunehmen. Juliette brauchte einen Ort, an dem sie sich
ausruhen konnte. Nach einer Weile fand sie einen kleinen Kreis aus Felsbrocken,
der nahezu vollständig von hohen Farnen verborgen war. Innerhalb des
Steinkreises, der wie eine natürliche Grotte war, lag ein im Mondlicht schimmernder,
von einem kleinen Wasserlauf gespeister Teich. Juliette setzte sich und erhob
ihr Gesicht zu den Baumkronen, um die dunstähnlichen Tröpfchen aufzufangen, die
es durch das dichte Blattwerk schafften. Donner grollte, und Blitze erhellten
den Rand der Wolken; ein Brüllen erschütterte die Erde und die Bäume und
kräuselte das Wasser auf dem bis dahin stillen Teich. Juliettes Hand flog zu
ihrem Herzen. Riordan war erwacht und aus der Erde hervorgekommen.
Juliette war nicht mehr da. Riordans
erste Reaktion war, aufzubrüllen vor Schmerz und Enttäuschung, und dann stieß
er in einem langen, ärgerlichen Zischlaut den Atem aus. Am liebsten hätte er
Juliette einmal kräftig durchgeschüttelt. Die körperliche Anziehung zwischen
ihnen war wie ein durch nichts mehr aufzuhaltendes Feuer, und das allein hätte
schon genügen müssen, um sie an ihn zu binden. Sie konnte sich auf eine lange,
schwere Zeit gefasst machen, ohne ihn und ganz allein dort draußen. Die während
des Bindungsrituals gesprochenen Worte würden ihr Bewusstsein zwingen zu
versuchen, den Kontakt mit seinem herzustellen. Er hatte es ihr erklärt, um ihr
die Qualen zu ersparen, die sie zweifellos jetzt erlitt. Auch er konnte schon
die Auswirkungen ihrer Trennung spüren. Noch schlimmer war jedoch, dass er ihren
Kummer ebenfalls empfand, einen Sturzbach von Gefühlen, die mindestens so tief
waren wie diese Quelle der Leidenschaft, die er in ihr entdeckt hatte. Juliette
empfand alles sehr, sehr intensiv. Riordan fuhr sich mit den Fingern durch das
lange Haar. Er musste schnellstens Beute suchen. Eigentlich benötigte er mehr
Zeit in der Erde, um zu gesunden, aber mehr als alles andere brauchte er
Juliette. Er blickte zum Himmel auf und brüllte wieder seinen Schmerz heraus.
Sie hatte den Damm um seine Gefühle gebrochen. Er erinnerte sich nicht, jemals
Zorn, Eifersucht oder Furcht empfunden zu haben, doch all diese Gefühle,
vermischt mit Kummer, bestürmten jetzt auf einmal seinen Geist. Es war eine
gefährliche Mischung.
Riordan fand die Spuren einer großen
Raubkatze, aber nicht die Fußabdrücke einer Frau. Sein Herz klopfte zum
Zerspringen aus Furcht um Juliette und Sehnsucht nach ihr. Es war ihr gelungen,
sich zu tarnen und keine Spuren zurückzulassen, doch der Ruf des Blutes und die
Bande, die sie einten, waren viel zu stark, um je zu brechen. Riordan
durchquerte schnell die Höhle, verwandelte sich noch im Laufen und erhob sich
als dichte weiße Nebelsäule in die Luft. Der Himmel war in Orange- und Rottöne
getaucht, grell und fast zu blendend für einen Mann, der so lange nur
Schattierungen von Grau gesehen hatte. Selbst mit dem dichten Nebel zum Schutz
platzte ihm fast der Kopf von der schier unerträglichen Intensität und
Helligkeit der Farben. Riordan jagte zwischen den Bäumen hindurch und blieb
unterhalb der Baumkronen, wo er den Schutz des Blattwerks nutzte, während er
sich an seine neue Sicht gewöhnte.
Das Kreischen eines Vogels war das
Einzige, was ihn warnte, als er plötzlich gegen etwas stieß und zurücktaumelte. Regentröpfchen glitzerten für einen Moment auf einem
silbernen Netz, das über ihm herabfiel.
Weitere Kostenlose Bücher