Hungerkralle
vor dem Hindernis an und kurbelte das Seitenfenster herunter.
Vier französische Soldaten auf der
Ladefläche hielten ihre Gewehre auf den Opel gerichtet. Aus der Beifahrertür
des Lkws sprang ein Leutnant mit gezogener Pistole und verlangte in gebrochenem
Deutsch barsch, die Fahrerlaubnis zu sehen.
Wassilinski zeigte dem Offizier seinen
Dienstausweis. Der Franzose nahm sofort Haltung an und salutierte schneidig.
»Pardon, mon Colonel!«
Der Genosse Oberstleutnant erwiderte
salopp den militärischen Gruß, indem er mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger
gegen seine Schläfe tippte, und drehte die Fensterscheibe wieder hoch.
Bevor Wladimir Wassilinski schließlich
nach seiner abendlichen Fahrt durch das verschneite Berlin die Siedlung in
Tempelhof erreichte, in der Benno Hofmann neuerdings wohnte, musste er noch
wiederholt seinen Armeeausweis zeigen.
Bei Hofmann brannte Licht. Wassilinski
hupte dreimal. Jemand erschien in der Fensteröffnung und winkte. Der Genosse
Oberstleutnant fuhr weiter bis zur übernächsten Straßenkreuzung und stellte den
Ford ab. Bis zu dem Varietétheater Aurora – eigentlich mehr eine
Mischung aus Bar, Restaurant und Tingeltangel-Bühne –, das die G Is vom
Flugplatz zu ihrem Treffpunkt erkoren hatten, waren es nur ein paar Schritte.
Im Innern war das Aurora spärlich von Kerzen erleuchtet, was nicht
schlecht zu der Atmosphäre passte, aber andere Gründe hatte. Um Energie zu
sparen, war in Berlin ab Mitte November der Befehl ergangen, nur noch Kerzen,
Karbid oder Petroleum zur Beleuchtung zu verwenden.
Wassilinski setzte sich auf seinen
Stammplatz am Tresen, und schon stand ein Glas Wodka vor ihm. Als Benno Hofmann
zehn Minuten später neben dem Russen Platz nahm, war der bereits bei seinem
dritten »Wässerchen« angelangt.
Bennos Russisch war so rudimentär wie das
Deutsch von Genosse Oberstleutnant. Aber mithilfe von Bleistift und Papier und
nicht unbedingt künstlerisch wertvoll dahingekritzelter Zeichnungen, neben
denen Zahlen standen, wurde man sich schnell handelseinig.
Nachdem das Geschäftliche erledigt war und eine
Handvoll Goldschmuck den Besitzer gewechselt hatte – auch bei Benno hielt es
Wassilinski mit Vorkasse –, kündigte ein Conférencier die »Tanzvorführung«
an, wegen der die GIs den Laden so schätzten. Eine junge, rothaarige Frau in
einem grünen, perlenbestickten Abendkleid mit tiefem Ausschnitt stellte eine
Karbidlampe auf das Bühnenpodest, und der Inhaber des »Theaters« verriegelte
die Eingangstür.
Wladimir Wassilinski schaute nur einmal
gelangweilt hoch, als die Dame auf dem Podest sich zu entblättern begann, und
ließ sich einen weiteren Wodka geben. Der Genosse Oberstleutnant schätzte keine
dürren »Ausdruckstänzerinnen«, an denen man die Rippen zählen konnte.
5. Kapitel
Stanislaw
Gormullowskis Traum
von
Kalifornien
Kurz vor Beginn der Entkleidungsshow
waren noch zwei Männer ins Aurora gekommen – ein amerikanischer Sergeant
mit drei Reihen Ordensspangen und ein schmächtiger Zivilist. Seit er seine
Edith hatte, verkehrte Burns eigentlich kaum noch in solchen
Vergnügungsschuppen. Aber die Mädchen brauchten dringend warme Bettdecken, und
der Sergeant hatte wieder den Mann kontaktiert, der Edith mit Kohlen versorgte.
Auf der Straße vor dem Etablissement hatten sie sich dann getroffen.
Burns’ Begleiter nickte Benno Hofmann
beiläufig zu und setzte sich mit dem Amerikaner in eine Saalecke. Dass der
schmächtige Mann das rechte Bein leicht nachzog und seine Unterlippe durch zwei
Narben entstellt war, fiel bei der schummrigen Beleuchtung nicht weiter auf.
Die Beinverletzung rührte von den Schlägen eines russischen Gewehrkolbens her,
mit dem man ihn in einem Lager in der Nähe von Rowno verprügelt hatte, und die
malträtierte Unterlippe war die bleibende Erinnerung an einen
Wehrmachtsunteroffizier, der wortlos zugeschlagen hatte, als Gormullowski nicht
schnell genug in den Viehwaggon geklettert war, der die Zwangsarbeiter ins
»Reich« transportiert hatte.
Stanislaw Gormullowski hatte die
Kriegswirren in Europa als Einziger der Familie überlebt. Oft hatte er sich
verflucht, nicht beizeiten dem Rat eines Neffen gefolgt zu sein, nach
Kalifornien auszuwandern. Nachdem Hitler und Stalin in Polen eingefallen waren
und Stanislaw in den Osten seines Heimatlandes geflüchtet war, nur um dort von
den Sowjets in ein Arbeitslager gesteckt zu werden, hatte er den deutschen
Angriff auf Russland kurzzeitig fast als eine Art
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