Hungerkralle
Drucker hatte in den ersten
Nachkriegstagen eine schwere Lungenentzündung dahingerafft, und der Kommilitone
war schon im Januar 1945 bei einem Bombenangriff umgekommen.
Stanislaw Gormullowski beobachtete Benno
aus dem Augenwinkel, während er sich mit Sergeant Burns über dessen Wünsche
unterhielt. Burns’ Deutsch hatte sich seit ihrer letzten Begegnung erstaunlich
verbessert. Hofmann verhandelte derweil anscheinend auch mit einem Kunden,
einem Russen, dem Wodkakonsum nach zu urteilen.
Stanislaw Gormullowski versprach Sergeant
Burns, Edith die benötigten Bettdecken zu beschaffen. Ein »Greenback« war dem
Unteroffizier die Sache als Anzahlung wert.
Burns wartete nicht auf das Ende des »Ausdruckstanzes«,
den die magere Blonde auf dem Bühnenpodest aufführte, sondern verließ das Aurora vorzeitig. Auch Bennos Kunde knüpfte sich seinen langen Fellmantel zu und
ging bald aus dem Saal.
Der Pole schlenderte zum Tresen und
setzte sich neben Hofmann. »Hör mal, Benno, ich brauchte bis zum Wochenende…«
Als Gormullowski nach einem halbstündigen
strammen Fußmarsch durch die eisige Nachtluft in der Remise eintraf, in der er
immer noch wohnte, versteckte er als Erstes die Eindollarnote hinter einem
lockeren Ziegelstein in der Fachwerkwand neben seinem Matratzenlager. Heizen lohnte
sich zu dieser späten Stunde nicht mehr. Gormullowski verkroch sich, nur den
Mantel ablegend, eiligst in seine Schlafstatt, packte auch noch zwei dicke
Wehrmachtsdecken auf das Federbett und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Kalifornien war noch sehr weit weg.
6. Kapitel
Ellenbogenhebel
im Hinterhof
Wenn Karl Meunier den
Erkerraum mit den schrägen Seitenwänden, den Benno und Lilo ihm in ihrem neuen
Domizil überlassen hatten, mit der Pankower Küchenhöhle verglich, die zu
verlassen er exakt vor einem Jahr im Mai gezwungen worden war, und wenn er sein
Bett und das andere Mobiliar betrachtete, das Benno »organisiert« hatte, konnte
er sich eigentlich glücklich schätzen. Glücklicher jedenfalls als die vielen
Menschen, die sich immer noch zu viert oder zu fünft Zimmer in halb
eingestürzten Häusern teilten. Den guten Wintermantel hatten die Plünderer
zusammen mit den Küchenutensilien mitgenommen, aber die Armbanduhr und die
goldenen Manschettenknöpfe waren noch in Karls Besitz. Er hatte sich auch bei
den Hofmanns polizeilich angemeldet. Ohne eine gültige Meldekarte oder eine
Arbeitsbescheinigung – die Karl nicht besaß – hatte niemand Anspruch auf die
Lebensmittelkarten, mit denen man die zu festgesetzten Preisen erhältlichen
Esswaren kaufen konnte. Dank Bennos Umtriebigkeit und geschickter Hand in
geschäftlichen Dingen erging es Karl deutlich besser als den meisten Berlinern,
was sein tägliches Brot betraf. Fettlebe herrschte nicht unbedingt im Hofmann’schen
Haushalt, aber seit Lilo aus Eckernförde nach Berlin zurückgekehrt war, bekam
Karl regelmäßig mittags oder abends eine warme Mahlzeit.
Wie Benno an das kleine, schmucke Haus in
einer ganz und gar nicht großstädtisch anmutenden Siedlung im Westen des
Flughafens Tempelhof gekommen war, darüber hatte er sich nicht weiter
ausgelassen, sondern nur etwas von »juten Beziehungen« und »nötijem Kleenjeld«
gebrummelt. An beidem haperte es nicht – ein Opel im Geräteschuppen neben dem
Häuschen mit einer am Wagenheck angebrachten Holzgasanlage, kündete gleichsam
von Bennos beständig wachsendem Wohlstand. Benzin war strengstens limitiert.
Karls Freund war es selbst mit Geld und guten Worten nicht gelungen, eine
Bezugsgenehmigung zu erhalten. Das Befeuern des Heckkessels mit Holzkloben und
Kohlen war zwar umständlich, aber der Wagen tat einigermaßen verlässlich seine
Dienste.
An alldem partizipierte Karl, seit er im
vergangenen Mai zu Benno in die Schrebergartenlaube gezogen war. Übrigens
keinen Tag zu früh, denn als er eine Woche später nochmals in der Florastraße
vorbeigeschaut hatte, war sein Wohnhaus vollends eingestürzt.
Schon im Juni und Juli hatten Karl und
Benno ein paar von den alten Sportkameraden wiedergetroffen – zumeist auf dem
Reichstagsschwarzmarkt – und schon gelegentlich auf der Wiese hinter der
Gartenlaube ihrem Steckenpferd Jiu-Jitsu gefrönt. Aber ohne Matten ließ es sich
nicht unbedingt so gut üben. Bodenkampf und Standtechniken gingen, nur Würfe,
bei denen der Angreifer über Hüfte oder Schulter geworfen wurde, erwiesen sich
bei dem unebenen Untergrund für den Fallenden als kein Vergnügen. Benno
Weitere Kostenlose Bücher