Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
Vom Netzwerk:
war
auch früher schon der kräftigste Trainingspartner von Karl gewesen, jetzt hatte
er noch mehr Mühe, ihn zu Boden zu bringen, denn die Nachwirkungen der schweren
Verstauchung des Fußknöchels bei seiner Flucht aus dem Adlon spürte er
gelegentlich immer noch. Sie behinderte ihn zwar überhaupt nicht beim Gehen,
machte sich aber bei einigen Übungen bemerkbar, wenn er das Standbein, etwa bei
einem Hüftwurf, mit einem schweren Brocken wie Benno belasten musste.
    Mit den Jiu-Jitsu-Nachmittagen hatte es
ein Ende, als Lilo zurückgekommen war. Wegen der ohnehin prekären
Versorgungslage der Bevölkerung, die sich nach dem Potsdamer Abkommen durch
Ströme von Kriegsheimkehrern und Ostflüchtlingen abermals verschlechterte,
hatte der Berliner Magistrat alle verfügbaren Grünanlagen und Parks in Äcker
und Gärten umwandeln lassen. – Auch jedes freie Fleckchen Erde im Hofmann’schen
Schrebergarten wurde genutzt, um Gemüse und Kartoffeln anzubauen. Und nach dem
Umzug aus der Laube in die Siedlung hatte Lilo als Erstes gleich wieder zu
Spaten und Harke gegriffen. Hasso, ein herrenloser Schäferhund, der ihr
zugelaufen und liebevoll aufgepäppelt worden war, sorgte dafür, dass außer den
Hofmanns und Karl niemand auf falsche Gedanken kam, sich etwa an dem Grünzeug
im Garten zu bedienen.
    Karl und Benno legten mit Hand an, wann
immer sie Zeit fanden, aber die Hauptgartenarbeit blieb an Lilo hängen, denn
Karl und Benno kehrten meist erst abends nach Hause zurück. Wie vereinbart,
erledigte Benno den finanziellen Teil der »Geschäfte«, und Karl dolmetschte bei
dessen Verhandlungen. Nichtdeutsche Kunden, bei denen seine Sprachkenntnisse
nützlich waren, gab es reichlich. Die Amerikaner waren wild nach Nazidevotionalien,
sei es ein Ehrendolch der Waffen-SS, sei es ein Ritterkreuz. Die Engländer
interessierten sich ebenfalls für derartigen braunen Erinnerungsplunder, die
Russen weniger. Seit längerer Zeit machte Benno Bombengeschäfte mit den
Sowjetarmisten, indem er Micky-Maus-Uhren an sie verschacherte, die ihm einer
seiner Leute von einem amerikanischen Sergeant besorgte, der auf dem Flughafen
Tempelhof stationiert war.
    Die Franzosen wollten häufig Kunst:
Gemälde, Vasen und Meissener Porzellan. Benno verfügte auch da über diverse Kanäle und
trieb für jeden Kunden das Gewünschte auf. Manchmal erledigte Karl für ihn
Botendienste, zum Beispiel wenn größere Warenmengen abgeholt oder angeliefert
werden mussten, denn er besaß im Gegensatz zu den anderen Männern, die Benno in
seine Geschäfte einspannte, einen Führerschein und war berechtigt, sich mit dem
Opel im Raum von Groß-Berlin zu bewegen. Der Freund hatte die begehrte
Genehmigung bei seinem S MAD-Kontaktmann durch eine »Jratifikazzion« in Form
von zwei jeweils in einen Greenback gewickelten Donald-Duck-Kinderuhren
erwirkt.
    Karl ging es den Umständen entsprechend
also nicht schlecht, nur dass er noch immer nichts von Vera gehört hatte,
lastete weiterhin schwer auf seiner Seele. Bei Lilo, deren Eckernförder Adresse
Vera gekannt hatte, war sie jedenfalls nicht aufgetaucht. Karl fuhr noch ein
paarmal in die Straße, wo ihre Eltern gelebt hatten. Aber dort sah es
unterdessen so aus wie in der Pankower Florastraße: Nur etwa jedes dritte Haus
war noch bewohnbar und wie überall in der Stadt zusätzlich mit ortsfremden
Flüchtlingen überbelegt. Die Aufräum- und Enttrümmerungsarbeiten waren in
vollem Gang. Schmalspurige Kipplorengleise durchzogen die Trümmerfelder wie
rostige Arterien. Überwiegend waren es Frauen, die das Geröll in die Loren
luden und zu den Sammelstellen schoben. Selten stand für die Knochenarbeit eine
Kleinlokomotive zur Verfügung. Männer sah man bei den schweren Arbeiten kaum,
es verwunderte nicht. Der Größenwahn des braunen Rattenfängers hatte sich
bitter gerächt. Umso schmerzlicher war es, dass die frenetischen
»Heil«-Schreier auch diejenigen Deutschen in die Massengräber mitgerissen
hatten, denen schon beim Anblick einer SA-Uniform zum Kotzen gewesen war. Karl
hatte in der Berliner Zeitung gelesen, dass in Berlin statistisch vier
Frauen auf einen Mann kamen, das ungleichgewichtige Geschlechterverhältnis
hatte sich auch nicht groß geändert, als die ersten aus der
Kriegsgefangenschaft Entlassenen in die Stadt zurückgekehrt waren. Nicht dass
die Ruinenberge sichtbar schrumpften, die Menschen weniger bleich und
ausgemergelt waren! Aber die meisten Straßen und Bürgersteige konnten immerhin
wieder

Weitere Kostenlose Bücher