Hungerkralle
einigermaßen benutzt werden, und das Streckennetz der öffentlichen
Verkehrsmittel wuchs von Woche zu Woche. Die U-Bahn verkehrte bereits auf fast
allen Linien regelmäßig.
Karl würde heute für Benno in besonderer
Mission unterwegs sein. Er musste in der Schlüterstraße in der Nähe vom
S-Bahnhof Savignyplatz ein Lokal anmieten. Benno Hofmann hatte große Pläne und
träumte von einer Wiedergeburt der im Krieg zerbombten Nachtbar Oriental.
Als Karl aus seinem Erkerzimmer nach
unten in die Küche ging, hatte Lilo ihm bereits seinen Morgenkaffee gebrüht und
dazu zwei mit Mettwurst bestrichene Brotscheiben hingestellt. Er streichelte
Hasso, der brav Männchen machte, da er wusste, dass garantiert ein Bröckchen
für ihn abfallen würde.
»Morgen, Karl, mein Dickerchen ist schon
weg. Er lässt dir ausrichten, dass du die ersten drei Mieten gleich mitnehmen
sollst.« Sie schob ein Bündel Reichsmarkscheine über den Tisch.
»Benno meinte gestern, der Hausbesitzer
würde mich gegen elf bei sich in der Wohnung in der Goethestraße erwarten. Ist
es dabei geblieben?«
»Ja.«
Karl steckte das Geld in das Scheinfach
seines Portemonnaies, ließ es in die Brustinnentasche der Anzugjacke gleiten
und machte sich über sein Frühstück her. Bei den Hofmanns trank man keinen
Ersatzkaffee. »Hat er den Wagen genommen?«
»Ja, er holt dich mittags gegen eins in
dem Ku’damm- Café ab, wo ihr euch sonst auch trefft.« Lilo zeigte auf
Karls linkes Handgelenk. »Und schließ den Manschettenknopf richtig, sonst ist
er futsch!«
»Oh, danke.« Er folgte ihrer Aufforderung
und schaute nach draußen in den Garten. Die Sonne schien. Einen Mantel würde
man heute nicht brauchen. Hasso bekam natürlich wie immer sein Minihäppchen
Wurstbrot und kringelte sich zufrieden unter dem Küchentisch zusammen.
Auf dem Weg zur U-Bahn überflog Karl die
Überschriften der Zeitungen, die ein Verkäufer mit Wäscheklammern hinter seinem
Klappstuhl an einen Gartenzaun geklemmt hatte.
Ein Jahr nach Kriegsende war die anfangs
noch durchaus euphorische Stimmung, endlich wieder Frieden zu haben, einer
breiten Ernüchterung gewichen, die zum Teil daher rührte, dass die Siegermächte
sich bei der Frage, wie das neue Deutschland gestaltet werden sollte, uneins
waren. Die amerikanischen und englischen Vorstellungen über Deutschlands
Zukunft unterschieden sich nicht nur von denen der Russen, sondern teilweise
auch von denen Frankreichs. Im Tagesspiegel las Karl: »Die SMAD gab
gestern bekannt, auf Kompensationen aus der laufenden Produktion in ihrer Zone
nicht verzichten zu wollen. Der stellvertretende US-Militärgouverneur General
Clay hat daraufhin die vorübergehende Einstellung der Reparationslieferungen
aus der amerikanischen Zone an die Sowjetunion angeordnet.« Karl und die
Berliner spürten schon länger diese Spannungen, besonders nachdem sich mit
russischer Rückendeckung in der Ostzone und im Ostteil Berlins SPD und KPD zur
SED vereinigt hatten. Trotz alledem war von der Alliierten Kommandantur von
Berlin in einem gemeinsamen Beschluss für alle vier Sektoren sowohl die SED als
auch die SPD zugelassen worden. Karl war nicht der Einzige, der sich die Frage
stellte, wohin die Besatzungsmächte, uneinig wie sie waren, den wracken Dampfer
Deutschland steuern würden. Benno sah das nüchterner: »Politik is immer’n
Scheißjeschäft, ejal wer jrade dran is. Solange ick dabei nich druffzahl, is
mir ooch ejal, wer det Rennen macht. Bloß den Anstreicher wünsch ick mir nich
zurück.«
Aber die braunen Ratten krochen schon
wieder aus ihren Löchern hervor. Natürlich nicht laut lärmend, dafür hatten sie
zu viel Kreide fressen müssen. Die Welt mahnte zu Recht: »Wir leben
heute in einer Periode des steigenden Missmuts, die zu einer Renazifizierung,
will sagen, zu einer Rückkehr zum nationalsozialistischen Denken führt… Das ›Tausendjährige
Reich‹ war eine Illusion, und überspannte Erwartungen an die Nachkriegszeit
waren eine Illusion. Verfallen wir nicht in eine neue, in die Renazifizierung.
Werden wir endlich Realisten!«
Karl löste im U-Bahnhof Flughafen einen
Fahrschein und zwängte sich in den Zug der Linie C in Richtung Seestraße. Er
schaute einem Mann über die Schulter, der in der Berliner Zeitung las.
Ein Artikel handelte von der katastrophalen Ernährungslage in der britischen
Zone. Karl musterte die anderen Fahrgäste. Schlechter als in Berlin konnte es
ihnen dort auch nicht gehen. Abgehärmte Gestalten, wohin er
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