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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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blickte. Daran
vermochte auch die Tatsache wenig zu ändern, dass die meisten Männer wie er gut
rasiert waren und viele ganz korrekt Anzug und Krawatte trugen, als würden sie
ins Büro fahren. Auch die Frauen waren wieder so sorgsam gekleidet, wie es
ihnen unter den gegebenen Umständen möglich war. Zumeist waren Röcke und Jacken
aus umgefärbten Wehrmachtsuniformen geschneidert, und für Blusen oder Hemden
eignete sich Fallschirmseide. Normaler Kleiderstoff war unerschwinglich. Karl
wusste das nur zu gut, denn Benno hatte gerade erst zwei Ballen mit saftigem
Gewinn verhökert.
    Am Halleschen Tor stieg Karl in die Linie B zum
Wittenbergplatz um. Bis er den Hausbesitzer treffen würde, verblieb noch
genügend Zeit, dem Buchladen hinter dem KaDeWe einen Besuch abzustatten.
    Der Konsumtempel im einst so gloriosen Berliner Westen
teilte das Schicksal mit dem Adlon -Hotel: Die Außenmauern standen noch,
aber das Dach war ein nacktes Geflecht aus zerdrückten Stahlträgern, und die
leeren Fensterhöhlen schauten auf die Schuttberge ringsherum.
    Der Buchladen, in den er häufiger ging,
seit er nicht mehr in Pankow wohnte, war ein kleines Geschäft in der
Keithstraße und der Inhaber ein aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassener
Soldat, der zusammen mit Benno in Eckernförde stationiert gewesen war. Karl
holte den Hemingway ab, den der Buchhändler zu beschaffen versprochen hatte. Fiesta auf Englisch.
    »Schon gehört?«, fragte Bennos Kriegskamerad. »Die
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wird wieder aufgebaut, mit Spenden aus
amerikanischen Kirchenkreisen. Zwei Millionen Mark soll das Ganze kosten.«
    Karl nickte. »Einerseits pumpen sie Geld
zu uns, die Amerikaner über allerlei Hilfsorganisationen, und Stalin lässt
Getreide aus der Ukraine in seine Zone schaffen, aber im gleichen Augenblick
räumen sie ab, was noch an einigermaßen intakter Industrie da ist. Das ergibt
doch keinen Sinn! Ich würde es ja verstehen, wenn sie die Reste der
Rüstungsbetriebe abtransportieren oder demontieren – aber warum um Gottes
willen denn ausgerechnet eine Glühlampenfabrik, wie die Russen neulich in
Magdeburg?«
    »Vae victis!«, murmelte der Buchhändler.
»Aber was soll all das Jammern? Wir haben uns den Mist schließlich selbst
eingebrockt. Das haben die meisten anscheinend vergessen.«
    »Sie haben es nicht vergessen«, sagte
Karl und seufzte. »Sie begreifen einfach immer noch nichts. Am Potsdamer Platz
verkauft ein Invalide ohne Beine Streichhölzer. Ich hörte zufällig ein Gespräch
mit einem Kunden: ›Gestern hat mir einer eine Schachteln geklaut, weil ich
nicht aufgepasst habe. – Unter Hitler wäre das nicht passiert, den hätte man
sofort ins Arbeitslager gesteckt.‹«
    Den Weg von der Keith- in die
Goethestraße zur Wohnung des Lokalvermieters legte Karl zu Fuß zurück. Eine
gemischte Gruppe alliierter Soldaten ließ sich von einem französischen Leutnant
mit einem Clark-Gable-Lippenbärtchen vor der zerstörten
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fotografieren. Karl erinnerte sich an den
Offizier. Er hatte gedolmetscht, als Benno ihm die Leica verkauft hatte.
    Karl ging weiter bis zum Bahnhof Zoo. Die
große Bahnhofshalle war im Krieg nie direkt schwer von Bomben getroffen worden,
aber jegliche Verglasung fehlte. Eine Straßenbahn der Linie 77 näherte sich der
Haltestelle an der Hardenberg-Ecke Joachimstaler Straße. Karl fiel ins Auge,
dass sie mit Werbung für Bullrich Salz beklebt war. Die Arzneimittelfirma, die
das Wundermittel gegen Völlegefühl und Sodbrennen – etwa nach besonders fettem,
schwerem Essen – anscheinend immer noch herstellte, machte derzeit wohl kaum
nennenswerten Profit. Für Bullrich Salz nahm man auf dem Schwarzmarkt selbst
Reichsmark ohne weitere Diskussion in Zahlung.
    Vom Bahnhof Zoo war es nur noch ein
kurzer Fußweg bis zur Goethestraße. Bevor Karl von der ruinengesäumten
Hardenbergstraße nach links abbog, sah er am »Knie« drei deutsche
Verkehrspolizisten mit weißen Überzügen über den Tschakos und weißen
ärmelschonerartigen Stoffröhren an den Armen den spärlichen Verkehr regeln.
    Die Straßenfronthäuser in der Goethestraße
waren zumeist zerbombt. Karl hatte mit Benno schon zweimal den Vermieter
besucht, dennoch fand er den Zugang zu dessen Hinterhauswohnung nicht auf
Anhieb. Ein Mann mit einer Schiebermütze hatte sich auf dem Bürgersteig gegen
einen Laternenpfahl gelehnt und in die Frankfurter Rundschau vertieft.
Seine Brille wurde über der Nase mit schwarzem

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