Hungerkralle
uns auf Dauer zu klein.«
Der Mann mit dem verunstalteten Gesicht
nickte einigermaßen beruhigt. Hotte hatte recht. Adolf Wagener, der sich nach
Kriegsende in Adolf Hübner verwandelt hatte, musste schon aus eigenem Interesse
die Klappe halten.
»Gut, morgen verdrücken wir uns also
hier. Ich schlage vor, dass wir auf dem Schwarzmarkt sicherheitshalber vorerst
den Ball flach halten und die Blüten auf Halde legen. Wir werden uns auf die
anderen Unternehmen konzentrieren, bis wir genau wissen, was mit Adolf
passiert.«
Fräulein Schwandt war ungehalten, denn
sie liebte es überhaupt nicht, andauernd bei ihrer meditativen Morgenlektüre
gestört zu werden. Selbst das Krähenpärchen auf dem Komposthaufen beschwerte
sich lautstark über den stinkenden Lastwagen, der jetzt mit dröhnendem Motor
bereits zum dritten Mal vor der Nachbarvilla hielt. Fräulein Schwandt legte
verärgert das in gelbes Leder gebundene Bändchen mit Buddha-Reden aus der Hand.
Drei Bewohner der Nachbarvilla, auch der mit dem abstoßenden Gesicht, und fünf
weitere Männer im Blaumann schleppten wieder diverse Kästen zum Lastwagen.
Dafür fehlte der Stiernackige.
Bei der ersten Fuhre hatten sie eine
riesige Holzkiste aus der Kellergarage der Villa auf den Wagen gewuchtet, unter
deren Gewicht sie fast zusammengebrochen wären. Die große schwarze Limousine
ihrer Nachbarn, die sonst vor der Garageneinfahrt stand, parkte auf dem
Bürgersteig.
Mit der zweiten Fuhre waren dann die
Dachpappenrollen und voluminöse Pappschachteln weggeschafft worden. Alles wäre
für Fräulein Schwandt aber noch einigermaßen erträglich gewesen, wenn die
Männer bei der Arbeit nicht ständig geflucht hätten. Wer so gotteslästerlich
fluchte, der sammelte schlechtes Karma
an. Darum ermahnte sich Fräulein
Schwandt, ihre Gedanken zu zügeln, denn wer seinen Mitmenschen gegenüber
unheilvolle Gedanken hegte, lud letztendlich ebenfalls böses Karma auf
sich.
Nebenan brach eine Kiste auseinander, und
Metallteile fielen scheppernd zu Boden. Um Fräulein Schwandts Gelassenheit war
es geschehen. Das Wort, das sie mit einem vernichtenden Blick auf das
Nachbargrundstück zischte, barg die Gefahr, im nächsten Leben als ein sehr
niederes Wesen wiedergeboren zu werden.
Fräulein Schwandt ahnte nicht, dass die Gefahr
schlechten Karmas sich an diesem Morgen drastisch für sie minimieren sollte.
Das Letzte, was sie jemals noch von den Bewohnern der Villa hörte, war die
Stimme des Mannes mit der Lederhaut, wie er, nicht mehr im Blaumann, sondern in
Anzug und Krawatte, in die Limousine stieg und den anderen zurief: »Also bis
später in Westend.«
10. Kapitel
Die
Wiedereröffnung des Oriental
Der Oktober 1946 war schon ausgesprochen kühl gewesen,
aber seit Mitte November sagten sich die Berliner, dass ihnen wohl wieder ein
kalter Winter bevorstand. Dass er den vergangenen bei weitem übertreffen
sollte, ahnte zu diesem Zeitpunkt indes noch niemand.
Karl hatte die Stelle als Dolmetscher in
Tempelhof bekommen. Er betreute deutsche Baukolonnen auf dem Gelände und
übersetzte für die Flughafenverwaltung, zum Beispiel Arbeitsanweisungen oder
Dienstpläne. Seine Arbeit war nicht sonderlich anstrengend, nur manchmal etwas
nervenaufreibend, denn er fand sich bisweilen zwischen allen Stühlen wieder.
Von morgens bis abends wurde in den
Hallen gehämmert, geschweißt und gemauert. Es würde dauern, bis der Flughafen
wieder so aufgebaut war, wie Karl ihn zu seinen Glanzzeiten kurz vor
Kriegsbeginn als Luftkreuz Europas in Erinnerung hatte.
Gelegentlich half er auch Major Miller,
die deutschsprachige Presse zu sichten. Nicht erst seit von Churchill der
Begriff »Eiserner Vorhang« geprägt worden war – als Bezeichnung für eine
Barriere, die das Nachkriegseuropa zunehmend in zwei Interessensgebiete teilte
–, hatte sich die Kluft zwischen den vier Alliierten stetig vertieft. Die
politischen Vorstellungen der Siegermächte über ein zukünftiges Deutschland
drifteten mehr und mehr auseinander. Englands und Amerikas Haltung
unterschieden sich nicht sonderlich, aber selbst Frankreich war nicht immer auf
der gleichen Linie, wenn es darum ging, den russischen Ideen einer Neuordnung
Europas Paroli zu bieten.
Karl traf sich mit dem Major häufig nach
Dienstschluss privat. Miller hatte ihm den Gefallen getan, über militärische
Kanäle mit dem Roten Kreuz im Raum Schleswig-Eckernförde Kontakt aufzunehmen.
Dem Suchdienst dort war ein Fräulein Vera Binder
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