Hungerkralle
Zweige, es folgten die dickeren Aststücke. Als das
Holz richtig brannte, packte er vorsichtig ein kleines, mit angefeuchtetem
Zeitungspapier umwickeltes Stück Bruchbrikett auf die Glut.
Elektro-Klaus und Benno hatten ihn wiederholt
zu überreden versucht, nach der Arbeit noch gemeinsam in Flugplatznähe ein Bier
zu trinken, aber außer an den Jiu-Jitsu-Abenden verspürte Karl kaum Lust, seine
neue Bleibe zu verlassen. Lieber las er, bis der Schlaf ihn übermannte. Und
immer noch wachte er bisweilen mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Dann
hatte der alte Traum ihn wieder heimgesucht. Vera.
In der Woche vor der Eröffnung des Oriental schaffte es Karl nicht mehr, sich mit seinen Jiu-Jitsu-Freunden im Schlüter
Straßenkeller zu treffen. Zwei Dolmetscherkollegen, deren Aufgaben ihm
zusätzlich aufgebürdet worden waren, lagen mit einer fiebrigen Grippe
darnieder. Das kalte Novemberwetter in Verbindung mit ungenügender Ernährung
und spärlicher Kohlenversorgung forderte überall Opfer, auch unter den
Bauarbeitern auf dem Flughafengelände, deren Zahl sich von Tag zu Tag
krankheitsbedingt dezimierte. Karl selbst spürte gelegentlich ein Kratzen im
Hals, blieb aber gesund. Nach Möglichkeit nahm ihn der Major immer zur Podbielskiallee
mit zurück. Anfangs war auch der dicke Leutnant McCullen mitgefahren, der sich
mit ihm die Dahlemer Wohnung teilte, aber der Dicke hatte seit zwei Wochen
einen eigenen Wagen. Wenn Karl von der Arbeit nach Hause kam, hatte er das
Gefühl, eine Eiskammer zu betreten. Der Kanonenofen heizte ausgezeichnet und
schnell, hielt aber ohne genügend Briketts oder Steinkohle die Wärme nicht
lange. Wachte Karl morgens auf, schmückten Eisblumen die einfach verglasten
Fenster.
Es lohnte sich nicht mehr, Feuer zu machen.
Der Major würde in einer halben Stunde wiederkommen und ihn abholen. Karl hatte
also nur mit einem Tauchsieder Wasser erhitzt, sich dann für Bennos Feier zum
zweiten Mal an diesem Tag rasiert und in Windeseile umgezogen. Viel Garderobe
stand ihm für seinen Antrittsbesuch im Oriental nicht
zur Verfügung. Ein gebügeltes weißes Hemd mit einer von Elektro-Klaus
geliehenen Krawatte und ein günstig am Reichstag erstandener dunkler Tweedanzug
(mit einem kunstgestopften Riss in der Ziertuchtasche) mussten ausreichen. Als
Karl seinen langen Wintermantel, ebenfalls vom Schwarzmarkt, anzog und den
Kragen hochschlug, hörte er ein dreifaches Hupen. Er trat ans Fenster und
schabte ein Loch in die Eisschicht. Unten stand bereits der Horch.
Auf der Fahrt nach Charlottenburg gab
gleich hinter dem Breitenbachplatz die Heizung ihren Geist auf. Aus den
Lüftungsklappen am Armaturenbrett kam plötzlich nur noch eisige Luft. Die
Frontscheibe beschlug augenblicklich von innen. Während Miller fluchend
vorsichtig weiterfuhr, sorgte Karl mit seinem Taschentuch für ein Sichtfenster
in der Scheibe.
Der 26. November 1946 sah nicht nur die
erste Sitzung des Berliner Stadtparlaments, auch die Café-Bar Oriental machte an diesem Tag tatsächlich wie geplant in der
Charlottenburger Schlüterstraße ihre Pforten auf. Ein Foto aus dem Parlament
würde sich am nächsten Morgen in allen Zeitungen finden: Hinter Alterspräsident
Wuschik am Rednerpult saßen uniformierte Vertreter der alliierten Siegermächte
und beobachteten die Anfänge der parlamentarischen Arbeit in Berlin.
Von der grandiosen Eröffnung des Oriental gab es kein Foto, aber alle waren gekommen. Ein kurzer Blick von Karl
in den Saal genügte. Benno und Lilo hatten seit Wochen emsig die Werbetrommel
gerührt. Goldelse war da, die auf dem Potsdamer Platz »in Juwelen machte«, Genosse
Oberstleutnant Wassilinski prostete einer drallen Schönheit zu, Leutnant
McCullen diskutierte mit einem Gast über die Kunst des Fliegenfischens.
Elektro-Klaus und Major Millers Fahrer, Sergeant Burns, hockten, in ein
Gespräch über Briefmarken vertieft, ebenfalls am Tresen. Neben Goldelse saß ein
Mann in einem grauen Anzug und blätterte in der Getränkekarte, handgeschrieben
von Lilo. Die Elektrik hatte Elektro-Klaus wieder auf Vordermann gebracht,
dennoch war das neue Oriental wegen der Stromlimitierung nur von Kerzen
erleuchtet. Benno hatte sich nicht lumpen lassen: Hunderte von ihnen erhellten
den Raum. Eine Garderobenfrau nahm Miller und Karl die Mäntel ab und gab ihnen
eine Blechmarke mit einer Nummer.
Uniformierte und Zivilisten, Männer und Frauen hielten
sich in etwa die Waage. Von den Damen trug allerdings bloß eine
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