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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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stellte sich auf die Zehenspitzen und
begann sich langsam mit geschlossenen Augen auf der Stelle zu drehen. Beständig
schneller kreisend, sah sie nicht, dass der Schatten hinter dem Fenster
ruckartig verschwand, hörte auch nicht, wie die Haustür aufflog, aber dass die
Arme, die sie plötzlich umschlangen, nur Karls Arme sein konnten, das spürte
sie, auch ohne die Augen zu öffnen.

 
    15. Kapitel
    Die
Fronten klären sich
     
     
     
    Colonel Teasdale trat nach der Vorführung applaudierend ins Zelt der
Braunschweiger Truppe.
    »Bravo, ladies and gentlemen, das war
eben eine wirklich gute Show! – Und den doppelten Salto am Ende deiner
Rollschuhnummer habe ich noch nie gesehen, Vera.«
    »Danke, Brian. Früher war das immer mein
Abgang.«
    Der Colonel begrüßte alle Darsteller mit
Handschlag, Vera mit einem Kuss. »Ich habe vorsorglich zwei Plätze im Restaurant
des britischen Segelklubs reservieren lassen. Wollen wir dort etwas essen, wenn
du dich umgezogen hast? Später muss ich allerdings noch zu einem Treffen mit
den Stadtkommandanten.«
    »Gern. In etwa fünfzehn Minuten?«
    »O. k. Leutnant Brown fährt uns hin. Er
steht mit dem Wagen beim Haupttor.«
    Teasdale verließ das Zelt.
    Vera streifte ihr durchgeschwitztes Trikot ab. Dreißig
Grad im Schatten, und die Bühne unüberdacht.
    »Dann mach du dich mal besser zuerst
frisch«, bot Anke an, »und lass deinen Schatz nicht unnötig warten.« Sie warf
Vera ein Handtuch zu und hielt ihr den Vorhang auf, der im hinteren Teil des
Zelts den Umkleidebereich von einem improvisierten Waschraum trennte.
    »Danke.« Vera schlüpfte durch den Spalt,
entkleidete sich, stieg in eine große Zinkwanne und übergoss sich mit dem
wohltuend kühlen Wasser aus einer zweiten Wanne, das sie mit einer flachen
Emailleschüssel schöpfte. Dann seifte sie sich langsam ein. Ausnahmsweise war
es keine englische Armeeseife, sondern ein nach Lavendel riechendes Stück aus
Leylas Vorrat. Während sie sich wusch, fuhren die Gedanken in ihrem Kopf
Karussell.
    Karl. Malta. Brian.
    Sie spürte nur eines mit großer Klarheit:
Brian das Wiedersehen mit Karl zu verschweigen war ihr unmöglich. Und ihn
dreist anzulügen, dass sie nach Malta nachkäme, hatte er einfach nicht
verdient. Dafür waren sie sich in den zwei Jahren ihrer, wenn auch lockeren,
Beziehung viel zu nahe gekommen.
    Vera begann sich abzutrocknen. »Ich bin
so gut wie fertig!«, rief sie.
    Anke streckte den Kopf durch den Vorhangspalt
und schnupperte: »Ah, Lavendelseife von Leyla!« Sie kicherte. »Davon ist doch
hoffentlich noch etwas übrig? Ich will nämlich gleich mit einem netten
französischen Leutnant tanzen gehen.« Sie musterte die Kollegin. »Ich weiß
nicht, irgendwie kommst du mir heute total verändert vor.«
    »So? Wie denn?«
    »Keine Ahnung. Anders eben.«
    Vera kleidete sich an. Als sie
Lippenstift auflegte, schaute sie in Leylas kleinen Handspiegel, der an einer
Zeltstange hing. Was hatte Anke bemerkt? Sie trat dichter an den Spiegel und
zog die Brauen mit einem Kohlestift nach. Auch ein Geschenk von Brian.
    Sie forschte lange in ihrem Konterfei und lächelte
dann. Es musste der neue Glanz in ihren Augen gewesen sein, der Anke
aufgefallen war. Augen sind der Spiegel der Seele. Karl.
    »Vera, trödel nicht rum!«, wurde sie von
der Kollegin ermahnt. »Mein feuriger Franzose ist garantiert nicht so geduldig
wie dein wohltemperierter Colonel.«
     
     
    Auf der Fahrt zum britischen Segelklub an
der Havel setzte Vera sich in den Fond, weil Teasdale und sein Adjutant noch
dienstliche Angelegenheiten zu besprechen hatten. Vera hörte dem Gespräch der
beiden Männer nur mit halbem Ohr zu und versuchte sich auf den unausweichlichen
Augenblick einzustellen, in dem sie Brian von Karls Wiedereintreten in ihr
Leben erzählen musste.
    »Dein wohltemperierter Colonel«, hatte
Anke gesagt.
    Was Anke als wohltemperiert bezeichnet
und keineswegs abwertend gemeint hatte, stimmte nur bedingt. Es war Brians für
die Außenwelt reservierte Maske, seit er die Nachricht vom Tod des zweiten
Sohnes erhalten hatte. Der Mann hinter dieser Maske war zwar immer noch ein
fürsorglicher Gefährte, nie verletzend oder aufbrausend, nur schien tief in ihm
jede Lebensfreude wie erloschen.
    Der für Colonel Teasdale
reservierte Tisch im Restaurant des britischen Segelklubs stand am Fenster des
Speisesaals. Von ihrem Platz aus konnte Vera ein Stück Havelstrand sehen.
Kinder planschten im Wasser, und zwei Frauen sonnten sich auf einer

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