Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
Vom Netzwerk:
Decke.
Sommer in Berlin. Ein friedliches Bild, fast als hätte es nie Krieg gegeben,
wären da nicht die Holzkreuze neben der Decke der Sonnenbadenden gewesen.
Holzkreuze, an denen Stahlhelme hingen.
    Nachdem der Kellner die Bestellung
aufgenommen hatte, war Vera noch immer unentschlossen, wie sie das Gespräch
beginnen sollte. Aber vorerst ergab sich noch kein geeigneter Ansatzpunkt, denn
schon wurden die Getränke gebracht und gleich darauf die Suppe. Tomatensuppe.
Vera trank Apfelsaft, der Colonel
Gin. Teasdale sah müde und erschöpft aus.
Auf Veras Frage hin berichtete er ihr kurz von der zermürbenden Konferenz am
Vortag im Alliierten Kontrollrat. Das zentrale Thema war wieder die anstehende
Geldreform gewesen. Die Vorstellungen der Amerikaner und Engländer über eine
neue deutsche Währung waren mit denen der Russen und Franzosen alles andere als
deckungsgleich. Vera hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.
    Der Hauptgang wurde aufgetragen, Havelzander für
beide. Vera musste an die Hungerstreiks überall in Deutschland denken. Teasdale
begann von Malta zu erzählen. Vera blieb weiterhin wortkarg.
    Der Colonel, der
jetzt erst die Soldatengräber bemerkte, nahm ihre Hand. »Du bist die ganze Zeit
sehr nachdenklich. – Ist es wegen Malta?«
    Sie nickte.
    Er sah sie prüfend an. »Ich kenn dich
doch nicht erst seit ein paar Tagen, Vera. – Darf ich raten? Du hast dich
entschieden, nicht mit mir nach Malta zu gehen, richtig?«
    »Ja, Brian, ich furchte, so ist es.«
    »Dein Entschluss klingt irgendwie…
unabänderlich? – Weshalb?«
    Der Zeitpunkt war gekommen. Sie nahm
allen Mut zusammen. »Weil ein Wunder geschehen ist, Brian. Karl lebt! Ich habe
ihn gestern wiedergetroffen.«
    Teasdale drückte ihre Hand fester und schaute
unverwandt auf die Gräber. Eine Weile schwiegen sie. Dann sah er Vera an. »Wie
kam es zu diesem unverhofften Wiedersehen? – Hatte er denn nicht nach dir
gesucht?«
    »Doch, Brian, das hat er, aber…«
    Stockend erzählte sie ihm von der schicksalhaften
Begegnung mit Birgit auf dem Sommerfest.
    Der Colonel lauschte
mit versteinertem Gesicht. Ohne ihre Hand loszulassen, wanderte sein Blick
erneut zu den Holzkreuzen. »Ich wünschte, ich könnte mit meinen Kindern ein
ähnliches Wunder erleben.« Noch immer Veras Hand umklammernd, fügte er leise
hinzu: »Schade. Ich hätte mir wirklich sehr gewünscht, dass du nach Malta
mitkommst.«
    Sie umarmte ihn. »Es ist nicht, dass ich
dich nicht mag.«
    Der Kellner brachte das Dessert. Apfelkompott.
    »Schon gut, that’s life, my dear! – How about another
drink?«
    Diesmal bestellte Vera Gin. Einen
doppelten.
     
     
    Sie blieben noch im Restaurant, bis
Leutnant Brown erschien, um den Colonel abzuholen.
    Teasdale erhob sich. »Sehen wir uns denn
noch einmal?«
    »Ja, Brian, ich komme auf jeden Fall nach
Braunschweig, bevor du abreist.«
    »Gut, sag mir rechtzeitig Bescheid. – Sollen
wir dich irgendwo absetzen?«
    Vera überlegte kurz. »Nehmt mich einfach
bis zur nächsten U-Bahn-Station mit.«
    »Das wäre Reichskanzlerplatz«, sagte der
Adjutant.

 
    16. Kapitel
    Überleben
     
     
     
    Mit dem Beginn der 104.
Lebensmittelkartenperiode am 23. Juli 1947 betrug die tägliche
Nahrungszuteilung nur noch 1300 Kalorien, 1945 waren es pro Kopf noch 3075
gewesen. Deutschland steuerte auf den totalen Bankrott zu. Um das zu begreifen,
bedurfte es keiner von den Zeitungen veröffentlichten Vergleiche. Ein Blick in
die Kochtöpfe, ein Blick auf die ausgemergelten Fahrgäste einer beliebigen
Berliner U- oder Straßenbahn genügte. Außerhalb der weitgehend abgeschotteten
Einrichtungen der alliierten Besatzungsmächte herrschte überall galoppierende
Hochinflation. Die Eindämmung des Schwarzmarktes war vollkommen gescheitert;
daran vermochten auch drakonische Strafen für ertappte Wiederholungstäter wenig
zu ändern. Tausend Reichsmark reichten noch knapp für ein Dutzend Eier, aber
wer in den Besitz einer Schreibmaschine gelangen wollte, tat gut daran, den
fünfhundertfachen Betrag bereitzuhalten.
    Dennoch erlebten Karl und Vera den Sommer
als eine Zeit des Glücks. Sie zog zu ihm in die Podbielskiallee. Lilos Verwandte
wohnten nicht mehr bei den Hofmanns, waren in die amerikanische Zone nach Fulda
übergesiedelt, und Benno hatte seinem Freund vorgeschlagen, mit Vera bei ihnen
in Tempelhof zu wohnen. Die beiden hatten sich für das freundliche Angebot
bedankt, aber nach reiflicher Überlegung abgelehnt. Lilo und Benno hatten
arbeitsbedingt durch das

Weitere Kostenlose Bücher