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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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McCullen?«
    »Seit ich ihm das Wassergrundstück am
Heiligensee besorgt habe, frisst er mir aus der Hand.« Richter wandte sich zum
Gehen. »Ach so, Otto fragte noch, wann Teasdale nach Malta versetzt wird.«
    »Anfang, Mitte Juli. Bis dahin quetsche
ich ihn aber noch gehörig aus.«
    »Mach das! Jedes klitzekleine Fünkchen an
Information kann für uns einmal verdammt viel Geld bedeuten.«

 
    14. Kapitel
    Vera
     
     
     
    Hatte der vergangene Winter alle
Kälterekorde gebrochen, so vermeldeten die Wetterstationen in Mitteldeutschland
am 30.6.1947 die höchsten Junitemperaturen seit 1851.
    Als die fünfköpfige Gruppe mittags in den
Braunschweiger Militärzug stieg, der sie nach Berlin zum großen Sommerfest der
dortigen britischen Garnison bringen sollte, flimmerte auf der
Bahnsteigplattform die Luft.
    Vera hatte lange mit sich gerungen, in
ihre Heimatstadt zu reisen, wo zwangsläufig erneut all die schmerzlichen
Erinnerungen über sie hereinstürzen würden. Spontan hatte sie es erst rigoros
abgelehnt, an der Gatower Show teilzunehmen, dann aber schließlich doch
zugesagt. Die Solidarität mit den lieb gewonnenen Kollegen hatte ihr auch kaum
eine andere Wahl gelassen. Ohne ihre Rollschuh-Solonummer, die das Kernstück
der Vorführung war, wäre das Engagement in Gatow nicht zustande gekommen. Vera
war besonders von Leyla, der Sängerin, angefleht worden, das Angebot
anzunehmen: Leyla war schwanger, Anke, die dänische Schleuderbrett-Akrobatin,
hatte unfallbedingt drei Monate pausieren müssen, sie brauchte ebenfalls dringend
Geld, und von den Gagen, die Boris, der polnische Musikclown, und dessen
deutscher Partner Franz nach Hause brachten, hingen zwei Familien ab. Ihr Nein
hätte die Kollegen in massive finanzielle Bedrängnis gebracht.
    Auch Brian, der in der Woche des Sommerfestes
wieder dienstlich in Berlin sein musste, hatte ihr gut zugeredet. Brian. In
zwei Wochen würde er in Malta stationiert sein, und noch immer hatte sie sich
nicht entschieden, ob sie ihn ans Mittelmeer begleiten sollte. War es die
Vorstellung, von einem kriegswunden Land in ein anderes überzusiedeln, die ihr
die Entscheidung so schwer machte? Sie hatte sich diese Frage oft gestellt,
wenn Brian auf das Thema zu sprechen gekommen war, aber keine schlüssige
Antwort gefunden.
    Leyla saß Vera gegenüber im Abteil am
Fenster. Es ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen. Der Zug setzte sich langsam
in Bewegung. Endlich machte ein leichter Luftstrom die drückende Hitze
erträglicher. Anke verteilte belegte Brote, und eine große Thermoskanne mit Tee
wurde von Boris herumgereicht, englischer Army-Tea, stark und süß. Vera
verdünnte ihren mit Wasser.
    Während sich die Kollegen über George Marshalls
ERP-Programm »Gegen Hunger, Armut und Verzweiflung in Europa« zu unterhalten
begannen, in dem der amerikanische Außenminister für die Westzonen Deutschlands
1,3 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt hatte, schaute Vera noch eine Weile
aus dem Fenster und schloss dann die Augen.
    Der Zug näherte sich Magdeburg.
    »Das ist auch bitter notwendig«, hörte
sie Franz sagen. Eine Zeitung raschelte. »Hier steht, 1142 Berliner sind im
letzten Winter erfroren. Bis das Ami-Geld unter die Leute kommt, beißen noch
mehr ins Gras. Eine knappe Million Menschen in der Stadt ist ohne Unterstützung
von außen nicht überlebensfähig.«
    Boris war etwas optimistischer. »Die
CARE-Pakete haben uns vor dem Schlimmsten bewahrt. Ich denke, wenn Marshall
sein Versprechen wirklich hält, könnte es irgendwann wieder mal langsam
aufwärts gehen.«
    »Aber das braucht Zeit«, mischte sich
Anke ein. »Viel Zeit. Ihr braucht ja bloß mal nach draußen schauen, dann seht ihr’s!«
    Veras Gedanken schweiften ab.
    »Good! You’ll see, time settles it all«,
hatte Brian auch gemeint, als sie ihren Entschluss, doch in Berlin aufzutreten,
mitgeteilt hatte. Die an sich tröstliche Bemerkung, dass die Zeit alle Wunden
heilen würde, hatte dennoch wie der Versuch einer verzweifelten Selbsthypnose
geklungen. Außerdem hatte er gelallt. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihm
waren Fotos seiner beiden gefallenen Söhne aufgestellt gewesen. Schweigend und
mit der Präzision eines Uhrwerks hatte Brian an dem Abend wieder die Ginflasche
geleert.
    Vera fiel in einen Halbschlaf. Verzerrte
Bilder des zerbombten Adlon- Hotelsmischten sich mit denen der
schnell vorbeigleitenden Landschaft: Grünstreifen, die wie die Linien von
Flak-Leuchtgeschossen durch Veras Traum irrten. Dann

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