Hungerkralle
Bill Gleasons Personaldecke war im Grunde genommen viel
zu dünn für die Fülle der anstehenden Aufgaben. Der Alliierte Kontrollrat tagte
zwar regelmäßig, und auch die Alliierte Militärkommandantur von Berlin traf
sich routinemäßig, nur war auf den Sitzungen mehr und mehr klar geworden, dass
die Sowjets und die in ihrer Zone von ihnen unterstützte SED gänzlich andere
Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands hatten als die westliche Allianz der
Besatzungsmächte. Und selbst die war sich in einigen Fragen uneins. Frankreich
zum Beispiel war beim Thema Währungsreform vorgeprescht, hatte im Saarland die
Saar-Mark eingeführt und damit die in allen vier Zonen gültige Reichsmark als
Zahlungsmittel abgeschafft. Eine Reichsmark musste gegen eine Saar-Mark
eingetauscht werden. Zu einem späteren Zeitpunkt war geplant, diese Saar-Mark
zu einem noch nicht definierten Wechselkurs durch den französischen Franc
abzulösen.
Lang war die Liste der Differenzen unter
den drei Westalliierten, und im BOB gaben sich Spezialisten jedweder Couleur
die Klinke in die Hand. Der Tag hätte mehr als vierundzwanzig Stunden dauern
müssen, um allein die dringlichen Anfragen aus Washington und Frankfurt zu
bewältigen, zum Beispiel, wie BOB das Veto des russischen Stadtkommandanten zur
Wahl von Ernst Reuter als Oberbürgermeister von Groß-Berlin einschätzte…
Trotz aller personellen Widrigkeiten und
Arbeitsüberlastung hatte Bill Gleason weiterhin intensiv die Entwicklung des
Falschgeldumlaufs in Berlin beobachten lassen. Anlass dafür war ein mit Beginn
des Sommers vermehrtes Auftauchen von Reichsmarkblüten besonders in
Geldinstituten der Westsektoren gewesen. Ein gemeinsames Profil der betroffenen
deutschen Konteninhaber zu erstellen war schwierig, denn sowohl städtische
Angestellte oder Beamte, Kriegerwitwen und Rentner als auch Gewerbetreibende
oder Unternehmer hatten die Falsifikate eingezahlt. Selbst Arbeiter bei den
amerikanischen Streitkräften in Tempelhof und Dahlem waren unter den Befragten
gewesen. Verhöre der besagten Personen hatten indes jedes Mal glaubhaft
ergeben, dass das Falschgeld von den Betreffenden unwissentlich auf die Banken
gebracht worden war.
Einmal pro Woche besprach Gleason sich in
dieser Angelegenheit mit Major Miller, etwas später am selben Tag konferierte
er telefonisch mit Richard Bloomsfield, der überraschend Mitte Juli in die
Frankfurter OSS-Zentrale versetzt worden war. Gleason hatte mehrmals energisch
gegen die Abberufung des tüchtigen Mannes protestiert und dramatisch die
Personalknappheit im BOB geschildert. Vergeblich. General Clay persönlich hatte
ihn als Berater für Berlinfragen angefordert. Major Miller war zweifelsohne
vertrauenswürdig und engagiert, aber nun mal eben kein geschulter OSS-Officer
wie Bloomsfield.
Einen Monat nach Bloomsfields Versetzung
schenkte Gleason dem Major weitgehend reinen Wein über seine Probleme ein,
selbstverständlich ohne zu erzählen, dass der Mann, den er am meisten
vermisste, der unscheinbare Oriental -Stammgast mit dem grauen Anzug war.
»… mit anderen Worten, Paul, ich bin vermehrt auf deine Mithilfe angewiesen. Da
es nicht so scheint, als ob die Russen hinter der Sache stecken würden, haben
die hohen Herren in der Zentrale mir zwar eingeräumt, dass ich die Sache
verfolgen soll, aber gleichzeitig wurde mir unmissverständlich gesagt, dass ich
gefälligst selbst dafür sorgen sollte, das mit dem augenblicklichen
Personalbestand zu realisieren. Schließlich gäbe es derzeit dringendere
Aufgaben für BOB. – Punkt.«
Major Miller nickte. »Ich sehe dein
Dilemma nur zu deutlich, Bill. Aber jedes Mal, wenn ich eine Zeitung
aufschlage, wird mir auch klar, weshalb die in Frankfurt so reagieren. Unser
Waffenbruder Stalin bereitet ihnen selbstverständlich mehr Kopfzerbrechen als
eine, und darüber sind wir uns wohl einig, lokale Bande von Geldfälschern.«
»Ich fürchte, du hast recht. – Jedenfalls
brauche ich ab jetzt jeden hier im Haus für die Einschätzung der
Großwetterlage, falls du mich verstehst.«
»Das bedeutet?«
»Das heißt klipp und klar, dass ich in
Sachen Reichsmarkblüten im Großen und Ganzen auf dich bauen muss.«
»Was heißt das in der Praxis?«,
insistierte Miller.
»Dass ich dir nur in absoluten
Ausnahmesituationen mit Manpower unter die Arme greifen kann. Besonders mit
deutschsprachigen BOB-Mitarbeitern ist dann kaum zu rechnen. Die Leute, die ein
Auge auf Mister Charles werfen, werde ich demnächst leider
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