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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Oriental einen Tag-und-Nacht-Rhythmus, der
wenig zu Karls geregeltem Tagesablauf passte. Es sollte sich als eine
prophetische Entscheidung erweisen, denn durch Vermittlung von Major Miller
wurde es bald möglich, Vera eine Festanstellung als Küchenhilfe auf dem
Flugplatz zu beschaffen.
    An den Wochenenden trat sie mit ihrer
Freundin Birgit im Oriental auf, was eine willkommene zusätzliche Finanzspritze
für den gemeinsamen Haushalt in Dahlem war. An Leib und Seele litten Vera und
Karl also keine Not, auch wenn trotz zweifacher Lebensmittelkarte I alles
andere als kulinarischer Überfluss herrschte.
    Benno und Lilo trafen sie häufiger
privat, zumeist nach der Arbeit in deren Tempelhofer Garten. Elektro-Klaus und
Goldelse waren oft mit von der Partie. Die beiden hatten sich bei Bennos Oriental -Eröffnungsfeier
kennen gelernt, waren unterdessen eng liiert und eine in jeder Hinsicht
prosperierende Symbiose eingegangen. Klaus Müller, gewiefter
Schwarzmarktexperte der ersten Stunde, machte jetzt ebenfalls in Gold und
Schmuck und fuhr vermutlich als Einziger von den deutschen Arbeitern auf dem
Flugplatz ein nagelneues Motorrad.
    Durch Major Millers ehemaligen Fahrer,
Sergeant Burns, der sich bei der Eröffnungsfeier mit Elektro-Klaus angefreundet
hatte, lernten Vera und Karl auch Edith Jeschke und ihre beiden Mädchen kennen.
Das Oriental öffnete in der warmen Jahreszeit erst am frühen Abend,
sodass am Nachmittag bei den Hofmanns ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.
Der Garten hinter dem Haus war dank Lilo s Bemühungen zu einer grünen Oase
gediehen, und ihre Backkünste taten ein Übriges. Manchmal schaute sogar Major
Miller kurz auf einen Kaffee vorbei.
    Wenn es an der Haustür schellte oder
jemand dem Gartenzaun zu nahe kam, führte Hasso sich immer noch wie eine Menschen
fressende Bestie auf, aber sobald Benno und Lilo den Besucher vorgestellt
hatten, trollte er sich wieder auf seinen Lieblingsplatz unter dem Küchentisch
oder, falls man im Garten saß, in die Hundehütte neben dem Geräteschuppen.
    Vera traf Birgit außer bei ihrer
gemeinsamen Show im Oriental kaum. Birgit arbeitete jetzt überwiegend als
Sekretärin bei ihrem Freund in der Uhlandstraße, denn immer mehr Kabaretts und
Varietés in Berlin hatten wegen der desolaten Wirtschaftslage schließen müssen.
Bennos Café-Bar blieb glücklicherweise wegen der guten Kontakte zu den
alliierten Besatzungstruppen von dieser Entwicklung verschont. Nur die Russen
frequentierten das Oriental seit Wassilinskis »Unfall« spürbar weniger. Benno
konnte die daraus resultierenden Umsatzeinbußen leicht verkraften, denn sein
Laden lief blendend und blieb für die wenigen Berliner, die nicht am Hungertuch
nagten, eine der angesagten Vergnügungsstätten im Westen der Stadt.
    Karl traf sich weiterhin regelmäßig
dreimal in der Woche mit den Sportfreunden zum Jiu-Jitsu im Keller unter dem Oriental, fuhr aber nach der Übungsstunde meist direkt nach Hause, wo Vera häufig
eine Kleinigkeit zu essen zubereitet hatte. Ihre Arbeit als Küchenhilfe in der
Flughafenkantine bescherte den beiden gelegentliche Köstlichkeiten wie
Hamburger, Spareribs oder Chickenwings.
    Horst Brandermann, das erfuhr Karl von
Vera, nachdem sie einmal mit Birgit im Oriental aufgetreten war,
beschäftigte nicht nur Bautrupps auf dem Flughafen, sondern besaß auch zusammen
mit seinen Partnern eine Druckerei und eine Spezialfirma, die aus den Ruinen
wiederverwertbare Stahl- und Eisenträger barg. Brandermanns Geschäft musste
enorm florieren.
    »Wieso?«, fragte Karl.
    »Er hat Birgit nach der Aufführung
abgeholt, und sie haben mich dann hierher gefahren. In einem dicken Mercedes.«
    Karl seufzte. »War das soeben ein
dezenter Hinweis, dass ich vielleicht auch eine Baufirma gründen sollte?«
    Sie lachte, umarmte ihn und band seinen
Krawattenknoten auf. »Dummerchen! Bloß das nicht, sonst musst du dich ja wie
Birgits Hotte ständig bis spät in die Nacht mit irgendwelchen Geschäftsfreunden
treffen und nicht mit mir. Und dagegen hätte ich durchaus etwas einzuwenden.«
    Karl und Vera hatten in der Tat viel
nachzuholen.
     
     
    Die dienstinterne Bezeichnung für die
OSS-Dependance im Dahlemer Föhrenweg lautete BOB, Berlin Operations Base. Vom
Sommer 1947 an verließ Bill Gleason die Villa so gut wie kaum noch. BOB war
wegen der zunehmenden Ost-West-Spannungen zu einem Hauptinformationszentrum für
die politischen Entscheidungen der amerikanischen Besatzungsmacht in
Deutschland geworden.

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