Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
hatte.
Es gab eine ganze Reihe Lerch im Basler Telefonbuch, und es gab zwei mit dem Namen Freddy. Der eine war Notar, Dr. iur., der war es wohl nicht. Der andere wohnte an der Lorbeerstraße 146.
Hunkeler stand in der Telefonkabine am Totentanz, das offene Telefonbuch vor sich. Lorbeerstraße, dachte er, die kannte er doch. Dort hatte er während seines Studiums einmal eine Mansarde gemietet gehabt. Ein altes Haus war es gewesen mit einer verlotterten Treppe. Unten drin hatte sich ein Spezereiladen befunden, von einer freundlichen Frau geführt. Die Harassen mit den Getränken hatte sie im Flur gestapelt gehabt. Und sie hatte nichts dagegen gehabt, dass er und seine Kollegen, wenn sie kurz nach Mitternacht hochgestiegen waren, ein paar Bierflaschen mitgenommen hatten. Die hatten sie oben ausgetrunken, bis ins Morgengrauen diskutierend und streitend, und am andern Morgen hatte er die leeren Flaschen zurückgebracht und bezahlt.
Die Telefonkabine war wie ein Ofen. Das Atmen fiel ihm schwer. Aber er senkte den Blick wieder, suchte noch einmal den Namen an der Lorbeerstraße. Dort war jetzt wohl eine Wohnung frei geworden, das Logis eines alten Mannes.
Hunkeler trat hinaus und wischte sich den Schweiß ab. Ein Brutofen war diese Stadt, sie brütete längst verloren geglaubte Erinnerungen aus.
Er stieg den Petersgraben hinauf, vorbei am Kantonsspital, in dessen Kühlraum ein Ertrunkener lag. Oben bog er rechts ab auf den ulmenbestandenen Petersplatz, auf dessen dürrem Rasen eine Türkenfamilie picknickte, spazierte dann durch die Mittlere Straße und setzte sich ins Auto, das vor seiner Wohnung stand.
Er fuhr nach Westen, der Birs entlang, die sich unter Erlen und Weiden durchs Juratal zog. Durch die Klus, die die Ebene vom Gebirge trennte, dem bewaldeten Berghang entlang, am Städtchen Laufen vorbei mit dem mittelalterlichen Tor. Rechter Hand waren zwei Steinbrüche in den Fels gerissen. Der Kalk leuchtete in der Sonne, ein rötlicher Schimmer. Ein langes Fabrikgebäude links, eine rostige Halle, in der eine gewaltige Stahltrommel lag. Dann wieder Wald, drüben am Hang eine schattige Weide.
Das Restaurant Bad stand gleich neben dem Stationsgebäude, wo der Weg nach Barzwil Dorf abzweigte. Hunkeler parkte, stieg aus und stellte sich an die Brüstung. Die Birs floss über Kiesel, handhoch, manchmal knietief, ein sauberes, kühles Wasser. In der Mitte lag eine Sandbank mit Grasbüscheln drauf, gelbe Schwertlilien, eine Weide, in deren Wurzelwerk ein roter Plastiksack leuchtete. Er überlegte sich, ob er hineinwaten sollte, erst über die nassen Kiesel, dann über den Sand. Sich mit der hohlen Hand Wasser in den Nacken träufeln, eine Schwertlilie pflücken, aber was hätte er mit der Blume anfangen sollen?
Er machte kehrt und betrat das Restaurant. Ein Gebäude aus der Zeit, in der Bahnlinie und Station gebaut worden waren, leicht muffig, angenehm kühl. Er setzte sich gleich links vom Eingang hin, bestellte ein Bier, betrachtete den fast leeren Raum. Nur neben der Theke saß einer am runden Tisch, ein alter Mann mit speckigem Lederhut, Brissago im Mund, Schnapsglas vor sich. Er bewegte sich nicht, er schien zu schlafen.
Als die Serviertochter das Bier brachte, sagte Hunkeler: »Lerch ist ein Barzwiler Geschlecht. Oder nicht?«
Sie strich das Haar zurecht, begutachtete ihn kurz mit scheuem Blick, nickte: »Da oben im Dorf wimmelt es von Leuten, die Lerch heißen. Warum?«
»Ich suche einen Freddy Lerch.«
»Tut mir leid. Ich komme aus dem Elsass, aus Kiffis. Fragen Sie den dort, das ist ein Hiesiger.«
Er schaute zum Mann hinüber mit dem Lederhut, zündete sich eine an, zog tief den Rauch hinunter. Dann erhob er sich, nahm sein Glas mit und ging hinüber.
Der Mann musste über siebzig sein. Ein unrasiertes Gesicht, violette Äderchen an der Nase, dunkle Lippen. Das Weiß der Augen war gelblich angelaufen.
»Was«, sagte er, »was suchen Sie?«
»Freddy Lerch.«
»Warum?«
Eine Uhr schlug, sieben helle Schläge, auf Messingstäbe gehämmert, melodisch und sauber.
»Er ist mir abhandengekommen«, sagte Hunkeler.
»Abhandengekommen? So ein Blödsinn. Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich wollte ihn besuchen, an der Lorbeerstraße. Er war nicht dort. Seine Wohnung ist nicht bewohnt.«
Der Mann kicherte. Es schüttelte ihn plötzlich vor Lachen, lautlos. Er suchte und fand Streichhölzer in der Jackentasche, zündete die erloschene Brissago an, stieß hellen Rauch aus und fasste sein Gegenüber jetzt genau ins
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