Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Zweizimmerwohnung mit Wohnküche und Toilette mit neu eingebauter Dusche. Zwei Ölöfen. Das Bett war einwandfrei in Ordnung gebracht, eine rote Plüschdecke lag darauf. Die Küche aufgeräumt, auf dem Tisch stand eine halbvolle Rotweinflasche. In der Stube hing dicht am Fenster ein Vogelkäfig. Ein blauer Wellensittich hüpfte darin herum, aufgeregt, ängstlich. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Bitte füttern! stand darauf, in eckiger, steiler Schrift. Daneben eine aufgerissene Schachtel Vogelfutter. Hunkeler nahm sie, trat zum Käfig und schüttete Hirsekörner hinein. Der Vogel beruhigte sich, setzte sich auf den Käfigboden und begann zu picken. An der Wand neben dem geblümten Kanapee hingen gerahmte Fotos. Eine Frau mit schwarzem, gehäkeltem Schal und weißer Bluse, ein Mann mit Stehkragen, streng blickend. Daneben ein Bild mit jungen Soldaten, zur Gruppe geschart, lachend, winkend. Flab-Rekrutenschule Payerne 1936, stand darunter. Links oben zwei Fotos von Hochseeschiffen. Ein Lastkahn, ziemlich schäbig, wie es Hunkeler schien, mit rostigem Aufbau hinten. Das war die CARONA . Ein stattlicher Passagierdampfer, der hieß ANDALUSIA , die Namen waren mit großen Buchstaben daruntergeschrieben.
Hunkeler trat zum Käfig und streute Futter nach. Wasser war noch genügend im Napf. Er steckte den Zeigefinger zwischen die Stäbe, lockend, aber der Vogel zeigte kein Interesse.
Dann ging er zum Buffet und zog die beiden Schubladen heraus. In der linken lag zuoberst ein blauer Zettel. Es war eine Belastungsanzeige der Basler Kantonalbank, die bestätigte, dass Freddy Lerch vor fünf Wochen von seinem Konto 50 000 Franken abgehoben hatte.
Hunkeler faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ein. Dann nahm er das blaue Heft, das darunter gelegen hatte, und blätterte darin. Es war bis auf drei Seiten vollgeschrieben mit der steilen Charakterschrift eines alten Mannes, der nur mit Mühe Schreiben gelernt hatte. Der letzte Satz war doppelt unterstrichen, mit Lineal. Er lautete: »Wer helfen will, macht sich schuldig.«
Er steckte auch das Heft ein, dann wandte er sich sehr schnell um. Im Türrahmen stand eine junge Frau mit rötlichem, kurzgeschorenem Haar, in grünem Shirt und grauen Jeans. Helle, ängstliche Augen, reglos, eine Hand am Türrahmen. Er hatte sie nicht kommen hören, er starrte sie an.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
Hunkeler stieß die beiden Schubladen zu, langsam und sorgfältig, er musste Zeit gewinnen. Warum zum Teufel hatte er sich überraschen lassen? Er schluckte leer, schaute zum Vogel hinüber. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin ein Bekannter, ein Freund.«
Sie stand immer noch ruhig da, sie überlegte. »Aber es war doch abgeschlossen. Was suchen Sie hier?«
Hunkeler versuchte zu lächeln. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Einfach so.«
»Warum kenne ich Sie nicht, wenn Sie ein Freund sind?«
Sie hatte unglaublich magere Achseln. Sie bewegte sich noch immer nicht.
»Keine Ahnung. Aber wer sind denn Sie?«
»Ich wohne nebenan. Ich habe einen Schlüssel zur Wohnung. Er hat gesagt, ich solle hin und wieder vorbeischauen.« Sie öffnete ihre Tasche und zeigte einen schwarzen Schlüssel. »Haben Sie dem Vogel Futter gestreut?«
Hunkeler nickte. »Wie heißen Sie, wenn man fragen darf?«
»Denise Zaugg. Ich bin befreundet mit Freddy. Oder besser, ich war befreundet. Jetzt ist er ja tot.«
Sie senkte die Augen, wartete, was geschehen würde.
»Also denn«, sagte er, locker und freundlich, »verzeihen Sie bitte die Störung. Auf Wiedersehen.«
Er wollte hinausgehen. Aber sie blieb stehen im Türrahmen, gab den Weg nicht frei. »Wer sind Sie eigentlich? Wie heißen Sie?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich wollte wirklich nur schnell vorbeischauen.«
Sie musterte ihn jetzt genau, kurz und scharf. Dann drehte sie sich um und ging schnell hinaus.
Hunkeler setzte sich. Er schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und wollte sie anzünden. Aber er ließ es bleiben. »Ich Esel«, murmelte er, »ich Vollidiot.«
Am Nachmittag lag er im Rhein, Arme ausgestreckt, Kopf im Wasser, und zählte die Sekunden. Er hörte das Geräusch einer Schiffsschraube, sehr nah, wie es schien. Bei sechzig hob er den Kopf und sah dicht vor sich den Bug eines Tankers aufragen. Mit schnellen Zügen wich er aus, nach links. Er spürte das Herz hämmern, als er entkommen war und das schwerbeladene Schiff an ihm vorbei Richtung Mittlere Brücke stieß. Was war los mit ihm? War er verblödet, dass er nicht mehr
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