Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
wohnt?«
»Lorbeerstraße 146, Kleinbasel.« Das kam schnell und präzise.
»Und Sie haben ihn nie besucht?«
»Nein. Warum sollte ich? Der weiß doch, wo ich zu finden bin. Es liegt nicht an mir, sondern an ihm. Er ist ausgewandert, nicht ich. Und er ist zurückgekehrt in die Schweiz, er hätte sich melden müssen. Wenn er sich nicht gemeldet hat, heißt das doch, dass er mich nicht mehr sehen will. Warum nicht? Können Sie mir sagen, Monsieur, warum mich Freddy nicht mehr sehen will?«
Hunkeler hakte schnell nach. »Vielleicht«, sagte er, »weil es ihm nicht gutgegangen ist.«
»Ach was.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Der hat doch gespart in der Karibik, der hat auf jeden Rappen geschaut. Und dann hat er ja noch über zwanzig Jahre lang bei der Thomy AG in Basel gearbeitet, in der Mayonnaise-Herstellung. Da hat er gut verdient. Nein, der hat mich irgendwie verachtet.«
»Nehmen Sie noch einen Schnaps?«, fragte Hunkeler.
Der Mann schneuzte sich. Dann schaute er gespannt zu, wie die Frau hinter der Theke ein neues Glas einschenkte.
»Sie hätten vielleicht trotz allem hinüberfahren sollen zu Ihrem Freund«, sagte Hunkeler, »wenn er schon eine Stelle für Sie gehabt hat.«
»Ich hätte du hättest er hätte.« Der Mann nahm das Glas in Empfang, schüttete es sich in den Hals. »Wir hätten alle, wenn wir hätten. Aber wir haben eben nicht. Freddy schon, der hat. Der ist ja auch nur Konditor gewesen, in Laufen vorn, im Tea-Room Montavon. Aber der ist eben abgehauen. Ab nach Havanna, zu den braunen Frauen. Und ich hocke da, seit Jahr und Tag, der letzte Dreck. Warum? Können Sie mir sagen, Monsieur, warum ich der letzte Dreck bin?«
Jetzt weinte er richtig, es schüttelte ihn vor Traurigkeit. Seine Stirn fiel vornüber, ein leises Stöhnen war zu hören.
Hunkeler bezahlte. Als er bereits unter der Tür stand, hatte sich der Mann erholt. Aufrecht saß er dort am Tisch neben der Theke. »Was wollen Sie überhaupt von mir, Monsieur?«, rief er giftig, »warum haben Sie mich ausgefragt?«
»Entschuldigung«, sagte Hunkeler, »ich wollte nicht stören.«
Am anderen Morgen kurz nach neun öffnete Hunkeler die Tür zum Badehaus, trat an die Brüstung und schaute ins Wasser hinunter. Ruhig floss es, durchsichtig grün, am Boden war der fein gewellte Sand zu sehen. Wie Dünen, dachte er, wie die Sahara, über die der Wüstenwind weht, fein gewundene Linien in den Sand zeichnend. Darüber schreitet barfüßig der blau gewandete Tuareg, ein weißes Dromedar an der Leine führend. Er schaute hinaus auf den offenen Fluss. Wie das Meer, die hohe See, auf der ein Kahn, ein Windjammer vielleicht, vorbeigleitet. Die Segel sind gesetzt, gebauscht im Winde, sie flattern. Und auf den Rahen oben sitzen die Matrosen, Ausschau haltend nach dem fernen Eiland. Er schüttelte den Kopf, er grinste. Nein, er wollte jetzt nicht in diesem Fluss schwimmen.
Hunkeler ging hinaus, schloss leise die Badehaustür, als ob er jemanden gestört hätte. Behutsam setzte er sich in sein Auto, startete den Motor und fuhr an.
Jenseits der Johanniterbrücke rollte er ein Stück weit geradeaus, bog rechts ab, dann links in die Lorbeerstraße hinein. Eine gewöhnliche Kleinbasler Straße. Rechts ein Gebäude der Mustermesse, links Altbauten, zwischen denen einige neue Wohnblöcke herausragten. Wenige Wirtschaften, fast keine Läden.
Das Haus, in dem er früher einmal eine Mansarde gemietet hatte, stand noch. Auch der Spezereiladen war noch da, geführt jetzt von einem Italiener. Zwei langhalsige Chiantiflaschen standen im Schaufenster, Salami und in Netze gebundene Käse hingen vom Fensterbogen.
Fünf Häuser weiter war die Nummer 146. Hunkeler parkte, stieg aus, drückte die Falle der Haustür. Sie war nicht zugesperrt. Er durchquerte den Flur. Verblichene Keramikplatten am Boden, Tapeten mit Blumengirlanden an den Wänden. Ein Fahrrad stand da mit plattem Hinterreifen.
Die Stufen knarrten, als er die vier Treppen hochstieg. Dann stand er vor der Tür des Freddy Lerch, der Name war unter dem Klingelknopf angeschrieben. Er wartete, er fühlte sein Herz pochen, bis in die Kehle hinauf. Der Riegel war geschoben, es war ein altes Schloss. Vorsichtig und leise – er wollte wirklich niemanden stören – klappte er den Schraubenzieher aus seinem Taschenmesser und fing an zu arbeiten. Zwischendurch verharrte er ruhig und lauschte. Das Treppenhaus blieb still. Er schob den Riegel zurück, brachte das Schloss wieder in Ordnung und trat ein.
Eine
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