Hunter 05 - Späte Vergeltung
noch mal. Wie heißt du eigentlich?«
»Shawn.« Er ließ sie rasch los und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Bis die Polizisten endlich zu ihr kamen, vergingen weitere zwanzig Minuten. Sie gab ihre Personalien an und sagte aus, dass sie den Wagen nicht richtig bemerkt habe. Er war dunkel gewesen, aber mehr hatte sie in der Schrecksekunde nicht erkennen können. Shawn konnte mit mehr Details aufwarten, aber auch er hatte sich das Nummernschild nicht gemerkt und auch den Fahrer wegen der getönten Scheiben nicht gesehen.
Als sie erwähnte, dass sie Rechtsanwältin sei, wurde der Blick des Polizisten schärfer und er fragte sie, ob die Fahrerflucht mit einem ihrer Fälle zu tun haben könnte. Einen Moment lang dachte Chloe darüber nach, aber dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe in letzter Zeit keine Drohbriefe bekommen, und außerdem wusste niemand, dass ich heute Morgen hier langgehen würde. Normalerweise fahre ich direkt mit der Bahn zum Büro.«
Der Polizist nickte. »Dann war es wohl wirklich nur ein Idiot, der bei Rot rübergefahren ist und dann Fahrerflucht begangen hat. Wenn wir noch etwas herausfinden oder weitere Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.«
Chloe nickte ihm dankend zu und rief ein Taxi, von dem sie sich nach Hause fahren ließ. In dem Zustand wollte sie nicht ins Büro kommen, und sie brauchte auch ein wenig Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Nachdem die Gefahr vorbei war, setzte auf einmal ein Zittern ein, das ihren ganzen Körper erfasste. Von den Sanitätern waren ihre Schürfwunden gesäubert und mit Verbänden umwickelt worden. Sie hatten ihr auch angeboten, sie ins Krankenhaus zu bringen, aber das wollte sie nicht. Es ging ihr gut, und sie hatte noch so viel Arbeit zu erledigen, dass sie sich einen Ausfalltag nicht leisten konnte.
Schlimm genug, dass sie viel zu spät zur Arbeit kommen würde, was Marie sicher sofort registrieren würde. Ganz sicher würde sie bei ihren Vorgesetzten anmerken, dass Chloe ihre Arbeit wohl nicht ernst genug nahm. Aber das war ihr im Moment egal, sie brauchte diese Zeit für sich. Und außerdem war sie beinahe überfahren worden, was ein triftiger Grund war, um später oder überhaupt nicht am Arbeitsplatz zu erscheinen. Glücklicherweise wusste die obere Etage, dass sie stets ihr Bestes gab, und Maries Anschwärzungsversuche liefen immer ins Leere. Trotzdem wäre es ihr lieber, wenn sie erst gar keine Angriffsfläche liefern würde. Wut auf den rücksichtslosen Autofahrer kroch in ihr hoch. Wie konnte er mitten im New Yorker Berufsverkehr dermaßen unaufmerksam fahren? Wie leicht hätte er jemanden dabei umbringen können!
Der Taxifahrer blickte sie besorgt im Rückspiegel an. »Geht es Ihnen gut, Ma’am?«
Mit Mühe unterdrückte sie ein erneutes Zittern – diesmal vor Wut. »Ja, danke.«
Sein zweifelnder Blick zeigte, wie schlimm sie aussehen musste, aber er nickte nur und sagte nichts weiter. Wenig später hielt er vor dem mehrstöckigen Haus an, in dem ihre Wohnung lag. Sie bezahlte ihn samt einem großzügigen Trinkgeld und stieg die Eingangstreppe hinauf. Vor einem halben Jahr hatte sie das Glück gehabt, eine annehmbare und bezahlbare Wohnung in einem umgebauten Reihenhaus zu finden. Bisher hatte ihr Herz jedes Mal höher geklopft, wenn sie an der Backsteinfassade hinaufgeblickt hatte, doch heute hatte sie keinen Sinn dafür. Sie wollte einfach nur hinein und sich für ein paar Minuten in Selbstmitleid wälzen.
So schnell es ihr lädierter Zustand erlaubte, erklomm Chloe die Treppe und öffnete ihre Wohnungstür. Sie trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Mit dem Rücken lehnte sie sich dagegen und schloss die Augen. Wie sehr wünschte sie sich, dass Zach jetzt bei ihr wäre und sie einfach in die Arme nähme. Doch das würde wohl für immer ein Wunschtraum bleiben. Vermutlich sollte sie froh sein, dass er inzwischen überhaupt schon mit ihr sprach.
6
Sowie sein Programm eine neue Mail ankündigte, ließ Zach den Bericht fallen, den er gerade las und öffnete die Audiodatei, die ihm der Techniker geschickt hatte. Nach einer kurzen Pause ertönte Cassies ruhige Stimme. Die Stille, die danach folgte, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Das Telefon war unter dem Bett, direkt neben der Leiche gefunden worden, was nahelegte, dass es ihr noch gelungen war, den Notruf zu wählen, bevor ihr Mörder sie überwältigt und den Anruf beendet hatte. Wenn sie vielleicht ein
Weitere Kostenlose Bücher